aus Arpo Nummer 5, 2017

Schwierige Regierungsbildung nach dem Wahldebakel der Volksparteien

Das Bild von der Bundesrepublik als Hort der Stabilität in einem immer unsicherer werdenden internationalen und europäischen Umfeld gehört nach dem Ergebnis der Bundestagswahl der Vergangenheit an. Parallelen zu politischen Zuständen, wie wir sie aus Griechenland, Italien, Frankreich oder auch Österreich kennen, drängen sich auf. Das Wahlergebnis zeigt die Erosion der Volksparteien, die weiter zunehmen wird. Die Sozialdemokratie traf diese Erosion bisher weitaus härter als ihre konservativen Konkurrenten.

Der Sozialdemokratie und den DGB-Gewerkschaften ist eines ihrer zentralen politischen Ziele abhanden gekommen. Ein gezähmter, zum Sozialstaat ausgebauter Kapitalismus, sollte zur sozialdemokratischen Alternative gegenüber dem sozialistischen Lager werden. Mit dem Ende der Systemkonkurrenz entfiel dessen Grundlage. Ein nach außen immer aggressiver auftretender Kapitalismus entledigte sich zunehmend auch der sozialen Zugeständnisse, die er der Arbeiterklasse zu Zeiten der Blockkonfrontation machen musste. Der Sozialstaat, wie wir ihn auch aus der BRD kannten, wurde zum Relikt aus sozialistischen Zeiten. Öffentliche Aufgaben und Betriebe wurden privatisiert, die Daseinsvorsorge zurückgefahren und den Mechanismen des Marktes unterworfen. Der Sozialdemokratie, die wie alle parlamentarischen Parteien der alten BRD die Niederlage des sozialistischen Lagers feierte, blieb nichts weiter, als sich den neuen Realitäten anzupassen.

Die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Schröder leitete mit der Agenda 2010 den entscheidenden Umbau des Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme ein. Nach der langen Ära Kohl verfügte die Union nicht mehr über die nötige Kraft, um derart tiefe soziale Einschnitte zur Sicherung und zum Ausbau der Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals voranzutreiben. Die SPD zahlte einen hohen Preis für die Bewältigung dieser Aufgabe. Sie verlor ihren Ruf, sozialer Anwalt des kleinen Mannes zu sein.

Seither haben sich die sozialen Gräben in der Gesellschaft zunehmend vertieft, während die beiden Volksparteien programmatisch und politisch enger zusammenrückten. Es gelang ihnen immer weniger, die unterschiedlichen politischen Vorstellungen und materiellen Interessen ihrer Anhänger und Wähler zu bündeln und auch zu befriedigen. Das zeigte sich in einer schon seit den 80er Jahren abnehmenden Wahlbeteiligung und nun im keineswegs überraschenden Ausgang der Bundestagswahl, bei wieder gestiegener Wahlbeteiligung. Den erneuten, zweistelligen Einzug der FDP hatte vor zwei Jahren kaum jemand erwartet. Im Parlament sitzen, wie zu Zeiten der Weimarer Republik, erneut zwei liberale Parteien, Grüne und FDP. Der Wahlerfolg der AfD war allerdings seit längerem absehbar. Die extreme Rechte befindet sich in einer Aufbruchstimmung. Die hatte sich auf der Straße (Pegida) als auch bei verschiedenen Landtagswahlen niedergeschlagen. Die AfD bildete ein Sammelbecken, mit deren Wahl fast 13% der Wähler*innen ihren seit langem angestauten Unmut zum Ausdruck brachten. Zum ersten Mal seit 1957 gelang einer rechtsnationalen Konkurrenz zur Union der Einzug in den Bundestag.

Die veränderte Parteienlandschaft und der Druck, der auf den geschwächten Volksparteien lastet, erschwert seither die Regierungsbildung. Wir erleben zum ersten Mal in der Geschichte der BRD Koalitionsverhandlungen, die eher einem Vorwahlkampf gleichen als dem Versuch, eine stabile Regierung für die nächsten vier Jahre zu bilden. Die FDP ließ aus parteitaktischen Erwägungen die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition platzen. Notwendige Kompromisse gegenüber den linksliberalen Grünen passen nicht zu ihrer Profilierung als nationalliberale Kraft zwischen Union und AfD. Das soziale Milieu, in dem beide Parteien auf Stimmenfang gehen, überschneidet sich. Auch dies erklärt die heftige Polemik der FDP gegenüber den Grünen und die Weigerung, ihnen Zugeständnisse zu machen.

Mit dem Scheitern von Jamaika scheint es wieder auf die Bildung einer großen Koalition hinauszulaufen. Die Verbände der Arbeitgeber drängen auf die Bildung einer stabilen Regierung. Sie warnen zugleich vor einem zu hohen Preis in den Koalitionsverhandlungen, d.h. vor sozialen Zugeständnissen der potentiellen Regierungspartner, um enttäuschte Wähler*innen zurück zu gewinnen. Innerhalb der Unionsparteien finden sie auf dem Wirtschaftsflügel, der Vereinigung des Mittelstandes, ein politisches Sprachrohr.

Die Vorstände der DGB-Gewerkschaften fordern die Sozialdemokratie auf, ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht zu werden und sich einer großen Koalition nicht zu verweigern. Sie reagieren aus einer Position der Schwäche. Während der Anteil von Beschäftigungsverhältnissen mit Tarifbindung erheblich gesunken ist, stieg zugleich die Anzahl von ungesicherten Jobs aller Art. Allein auf betrieblicher Ebene und mit tarifvertraglichen Mitteln lässt sich die Deregulierung der Beschäftigungsverhältnisse nicht aufhalten. Die SPD als zukünftiger Regierungspartner soll dafür sorgen, dass soziale Haltelinien deren Folgen abmildern.

Schon während des Wahlkampfes wurde deutlich, die SPD kann ihren Agenda-Kurs nicht korrigieren, sondern allenfalls kosmetisch modifizieren. Die Erwartungen/Hoffnungen der Parteibasis auf eine Kurswende und Erneuerung der Sozialdemokratie werden sich nicht erfüllen – weder in der Opposition noch in der Regierungsverantwortung. Sie erhöhen aber den Druck auf den Parteivorstand. Er muss möglichst viele sozialdemokratische Forderungen durchsetzen, um die Fortführung der GroKo vor der Mitgliedschaft zu rechtfertigen. Zugleich schwächt die Wahlschlappe das Gewicht der SPD gegenüber potentiellen Koalitionspartnern.

Auch die geschwächten Unionsparteien, innerlich zerrissen, stehen unter großem Druck. Merkel als Kanzlerin ist eher geduldet denn erwünscht, solange es keine personelle Alternative gibt. Der CSU droht der Verlust der absoluten Mehrheit bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr. Nach aktuellen Umfragen wäre die CSU gezwungen, mit zwei Partnern zu koalieren, um auch weiterhin den Ministerpräsidenten stellen zu können. In Sachsen wurde die CDU nur noch zweitstärkste Partei hinter der AfD. Die Vorwürfe aus der CSU an Merkel (fehlendes konservatives Profil, Sozialdemokratisierung der Union, Öffnung der Grenzen für Geflüchtete) wird auch in der Schwesterpartei von vielen Mitgliedern geteilt. Die Vereinigung des Mittelstandes in der Union drängt darauf, der SPD keine größeren Zugeständnisse in der Sozialpolitik mehr zu machen, wie sie kennzeichnend für die letzte Koalition gewesen wären. Der Spielraum in den Sondierungsgesprächen mit der SPD ist eng.

Es ist kennzeichnend für die aktuelle politische Situation, dass selbst kurzfristige Vorhersagen über mögliche Koalitionen, deren Tragfähigkeit oder Dauer reine Spekulation bleiben müssen. Das gilt für eine GroKo ebenso wie für die Vorschläge, eine Minderheitsregierung zu bilden. Die kommen, aus unterschiedlichen Motiven, sowohl aus der Union als auch aus der Sozialdemokratie. Und trotz der Ängste der beiden Volksparteien vor dem Votum der Bevölkerung scheinen auch Neuwahlen nicht ausgeschlossen.

Die AfD, dauerhafte Konkurrenz für die Union?

Das Postulat von Franz Josef Strauß, es darf sich keine Partei rechts von der CDU dauerhaft etablieren, ist in Frage gestellt. Mit der AfD zog eine solche Kraft in zahlreiche Länderparlamente und in den Bundestag ein. Die Anhänger von Ideologien, wie sie in der AfD vorherrschen, fanden in der Nachkriegsära in der Union ihre politische Heimat. Große politische Differenzen zwischen dem rechten Flügel der Union und der AfD sind kaum wahrnehmbar. Viele AfD-Forderungen zum Asylrecht und zur Eindämmung der Zuwanderung wurden von der Regierungskoalition aufgegriffen und umgesetzt. Die von der CSU geforderte Obergrenze wurde zur Grundlage der Unionsparteien für die Koalitionsgespräche. In den neuen Bundesländern, wo die AfD besonders stark und die Volksparteien entsprechend schwach abgeschnitten haben, melden sich die ersten Stimmen aus der sächsischen Union, die eine Öffnung der CDU in Richtung AfD fordern.

In der AfD, zunächst als nationalkonservative, eurokritische Partei gegründet, organisierten sich immer mehr Personen aus der völkischen und faschistischen Szene. Aufwind erhielt die Partei durch die Pegida-Demonstrationen. Die beherrschten monatelang die Schlagzeilen und damit die Meinungsbildung – egal, ob nun pro oder contra. Die AfD öffnete ihre Reihen für die Pegida-Organisatoren als auch für Leute aus der organisatorisch zersplitterten faschistischen Szene. Auch wenn deshalb etliche Gründungsmitglieder (Lucke, Henkel oder Petry) seither die Partei verließen, dem Zulauf zur AfD tat dies keinen Abbruch – ebenso wenig wie die Reaktion der übrigen parlamentarischen Parteien. Der Versuch, die AfD als populistisches Schmuddelkind zu isolieren unter der Beteuerung, man müsse die Ängste und Nöte ihrer Wähler ernst nehmen, bewirkte das Gegenteil. Es stärkte das Image der AfD als Protestpartei, mit deren Wahl die Bürger*innen den Etablierten einen Denkzettel verpassen konnten.

Der jüngste Parteikongress hat den Rechtsschwenk der Partei untermauert. Es wird keinen Kurs der Öffnung und Koalitionbereitschaft zur konservativen Mitte geben. Die AfD verbleibt in der »Fundamentalopposition«, mit enger Bindung zu den rechten Bürgerbewegungen wie Pegida. Zwei durchaus realistische Überlegungen stecken hinter dieser Strategie:

1. Bestrebungen nach Regierungsbeteiligungen sind kontraproduktiv für das Image als Protestpartei.

2. Auch nach der Bildung einer neuen Bundesregierung wird deren Politik für weiteren Zulauf zur AfD sorgen. Deshalb die umjubelte Parole: Wir stehen erst für eine Regierungsbildung zur Verfügung, wenn wir so stark sind, dass die anderen Parteien darum betteln müssen.

Sozialdemokratie und Linkspartei

Programmatisch greift die Linkspartei auf sozialdemokratische Vorstellungen aus den Zeiten der Systemkonkurrenz zurück. Damit aber steht sie vor einem ähnlichen Dilemma wie auch die SPD. Deren reformpolitische Erfolge in der alten Bundesrepublik waren nur möglich, weil das sozialistische Lager durch seine Existenz dem Kapitalismus Grenzen setzte. Anders ausgedrückt, die DDR saß als unsichtbarer Verhandlungspartner mit am Tisch, z.B. wenn es bei der Sozialgesetzgebung oder in Tarifverhandlungen darum ging, die Überlegenheit des westlichen Gesellschaftsmodells zu demonstrieren.

Die Mehrheit in der arbeitenden/erwerbslosen Bevölkerung sehnt sich nach den Zeiten des sozialen Ausgleichs zurück. Sie ahnen zugleich, dass sich das Rad nicht zurückdrehen lässt. Bei aller Empörung über Hartz IV und über die neoliberale Wende der SPD sahen viele bei ihrer Wahlentscheidung in der Linkspartei keine Alternative, obwohl die doch programmatisch und zum Teil auch personell die alten sozialdemokratischen Ideale verkörpert. Das Misstrauen wird durch ihre Erfahrungen mit der Linkspartei bestätigt, z.B. in Berlin. Die Senatskoalitionen von SPD und Linkspartei der Jahre 2000 bis 2008 verordneten der durch einen Bankenskandal völlig überschuldeten Stadt einen strikten Sparkurs. Sie folgten dem üblichen Muster. Die städtischen Wohnungsbaugesellschaften und andere kommunale Betriebe wurden privatisiert, der soziale Wohnungsbau fast gänzlich eingestellt. Zahlreiche Stellen im Öffentlichen Dienst wurden gestrichen und den Beschäftigten Sparrunden zur »Gesundung des Haushaltes« verordnet. Die rot-rote Koalition hinterließ eine marode Infrastruktur und einen kaputt gesparten öffentlichen Dienst. Die Linkspartei verlor nicht nur ihre Glaubwürdigkeit, sondern auch einen beträchtlichen Teil ihrer Wähler*innen, die vor allem in den neuen Bundesländern auch zur AfD abwanderten.

Die Aufforderungen aus der Linkspartei an die SPD, sie solle sich zu ihren sozialdemokratischen Wurzeln bekennen, um in einer gemeinsamen Koalition mit den Grünen die GroKo abzulösen, stieß bei den gewünschten Bündnispartnern auf Ablehnung. Es war keine realistische Alternative für die Bundestagswahl 2017. Den Wähler*innen allerdings signalisierte sie das Streben der Linkspartei nach Regierungsbeteiligung. Die Erfahrungen mit derartigen Koalitionen auf Länderebene sind eindeutig. Nicht die SPD ist zu ihren Wurzeln zurückgekehrt, was die Linkspartei tendeziell überflüssig machen würde. Die Linkspartei hat sich den Vorgaben ihres Koalitionspartners und den Sachzwängen gebeugt. Die lassen kaum Spielraum bei der Verwaltung der kapitalistischen Gesellschaft, solange nicht die Arbeiterklasse die bestehenden Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten verändert und die Voraussetzungen schafft zur Überwindung dieser Ordnung.
8.12.2017