aus Arpo Nummer 4, 2013  

Zur Bundestagswahl September 2013
Wählen im Schatten der europäischen Krisen

Man könnte meinen, Furcht habe die Bürger an die Wahlurnen getrieben, Furcht habe sie zu den großen Volksparteien CDU/CSU und SPD getrieben, und dieselbe Furcht habe sie den kleinen Parteien entfremdet – mit einer Ausnahme allerdings, nämlich der »Alternative für Deutschland« (AfD).

Furcht wohlgemerkt, nicht Panik. Die übergroße Zahl der Wählerinnen und Wähler in Deutschland will erkennbar keine Veränderungen. Die Krisenländer Griechenland, Portugal, Spanien waren im Wahlkampf der Bundestagsparteien kein Thema, ebenso wenig die schleichende Deindustrialisierung der großen europäischen Staaten England, Frankreich und Italien. Aber das heißt nicht, dass diese Krisenerscheinungen nicht wahrgenommen worden wären. Das Elend der südlichen Nachbarn vor Augen, schien den deutschen Lohnabhängigen der status quo im eigenen Land ein erstrebenswertes Ziel. Und das hieß, technisch gesehen, einer großen Koalition von CDU/CSU und SPD an der Wahlurne den Weg zu ebnen. Für die Klientelpartei FDP bedeutete dies den Ausschluss aus dem Bundestag. Die Linkspartei und die Grünen büßten Stimmen ein, bleiben aber im Parlament. Die AfD verpasste mit 4,8 Prozent knapp den Einzug, aber im Unterschied zur Piraten-Partei, die ebenfalls unter dem Quorum blieb, bedeutet das wahrscheinlich nur den Anfang ihres Aufstiegs in der deutschen Politik, nicht dessen Ende. 1)

Wenn nun die europäische Komponente für die große Mehrheit der Wählenden eine solch entscheidende Rolle spielte, warum gelang dann der AfD nicht ein weitaus besserer Start? Darauf gibt es zwei Antworten: Erstens vertraute eine deutliche Mehrheit darauf, dass die Unionsparteien und die Sozialdemokraten weiterhin eine Europapolitik betreiben würden, welche die Belastung für die deutsche Bevölkerung gering halten würden. Es gab und gibt bislang nur eine Minderheit in der Bevölkerung, die sich gegen die »Rettungspolitik« Angela Merkels in der sogenannten Euro-Krise stellt. Diese Minderheit stellte nun auch die Protestwähler, die aus allen politischen (Partei-) Lagern kamen.

Die zweite Antwort lautet, dass die AfD noch sehr jung ist und mit derzeit nur etwa 17 Tsd. Mitgliedern und Förderern noch kaum Strukturen für einen erfolgreichen Wahlkampf aufbauen konnte. 2) Allerdings lässt sich heute schon sagen, dass der weitere Weg dieser Partei im Groben bereits vorgezeichnet ist. Ihr künftiger Aufstieg ist nur in der Opposition zur weiteren EU-Integration und in einer Profilierung auf der rechten Flanke des Parteienspektrums wahrscheinlich. Ihre Perspektive liegt vor allem darin, dass sie mit ihrer Entstehungsgeschichte isolationistischen und reaktionären politischen Strömungen einen wählbaren Parteinamen geben kann, der nicht gleich mit den Neonazis und Rassisten in Verbindung gebracht wird, wie z. B. die NPD oder die Republikaner. Dann wird sich allerdings auch das Personal an der Spitze schnell verändern und nicht mehr so honorig-professoral daher kommen. Wenn auch die europäischen Krisenerscheinungen einemaßgebliche Rolle beim Ausgang dieser Wahl spielten, so war gleichwohl nicht alles »Europa«. Die sozial- und wirtschaftspolitischen Themen, wie Mindestlohn, Leiharbeit, Kosten der Energiewende, hatten auch Bedeutung. Doch auch in diesen Feldern waren und sind die Differenzen zwischen Unionsparteien und Sozialdemokraten eher gering und für die Meisten nicht leicht erkennbar.

Wahlgrafik

Der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU hatte in der schwarz-gelben Koalition häufig auf die Hilfe durch die FDP gesetzt und die Sozialpolitiker beider Lager fanden in der Vergangenheit leicht Kompromisse untereinander. Lohnarbeitende und Erwerbslose hatten freilich wenig Nutzen davon. Bei der Einführung der »Hartz«-Gesetze 2003/4, an denen die Gewerkschaftsvorstände durch Mitarbeit in der Kommission beteiligt waren, hatten sich diese im Gegenzug zu Verschlechterungen im Arbeitsrecht »Haltelinien« nach unten versprochen, z.B. Maßnahmen zur Einführung eines gesetzlichen, flächendeckenden, branchenübergreifenden Mindestlohns (derzeit Forderung der DGB-Gewerkschaften 8,50 EUR, der Linkspartei und von sozialen Bewegungen 10,- EUR lohnsteuerfrei) und zur Bekämpfung von Leiharbeit und Werkverträgen. All das wurde jedoch nicht angepackt und spielte – trotz Ankündigung von Kampagnen – in diesem Wahlkampf offensichtlich keine Rolle. Die Vorstände der DGB-Gewerkschaften erhoffen sich von einer großen Koalition ein Gesetz zur »Tarifeinheit«, das ihnen die lästige Konkurrenz kleinerer Spartengewerkschaften von Hals schaffen soll. Die Kfz-Maut war außerhalb Bayerns kein wichtiges Thema im Wahlkampf, ebenso wenig die Zukunft der Renten und der Krankenversorgung, wie auch die künftigen Folgen der in der Verfassung verankerten Staatsschuldenbremse, oder die Frage von Steuererhöhungen. Für die meisten Menschen und insbesondere für die Jüngeren, waren diese Themen wohl eher abstrakt. Und solange die Konjunktur der nordeuropäischen Länder boomt und die Arbeitslosigkeit – vor allem im Vergleich zu den Südeuropäern – niedrig erscheint, wünschten sich wohl viele, dass es so bleiben möge – auch, wenn dies wenig wahrscheinlich ist.

Doch nicht nur die Lohnabhängigen in Deutschland, auch die Mehrheit der deutschen Unternehmer begrüßt die »Stabilität«, die eine große Koalition mit sich bringen sollte – ebenso übrigens die maßgeblichen Zeitungen der europäischen Nachbarn. Dieser Wunsch nach einem verlässlichen Anker entspringt der immer wieder aktuellen Erfahrung der Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Ökonomie – im nationalen wie auch im internationalen Maßstab. Auch die künftige Bundesregierung, welche Farben sie auch immer trägt, wird damit überfordert sein, solche Wünsche zu erfüllen. 26.9.2013

1) Die Wahlergebnisse in Prozent (Ergebnisse BT-Wahl 2009 in Klammern):
Wahlbeteiligung 71,5 (70,8); SPD 25,7 (23,0); CDU 34,1 (27,3); CSU 7,4 (6,5); Grüne 8,4 (10,7); FDP 4,8 (14,6); Die Linke 8,6 (11,9).

2) Die Alternative für Deutschland (AfD) ist ursprünglich aus einer eurokritischen Professorenvereinigung hervorgegangen. Bei dieser Bundestagswahl, wo sie zum ersten Mal antrat, hat sie aber Stimmen überwiegend von männlichen Arbeitern erhalten und Wechselwähler von allen anderen Parteien angezogen: Von der CDU, aber auch von der FDP (430 Tsd.), von der Linkspartei (340 Tsd.) und 210 Tsd. vormalige Nichtwähler. Bei Befragungen gaben sechs von zehn AfD-Wählern an, die Partei nicht aus Überzeugung, sondern aus Enttäuschung über die anderen Parteien gewählt zu haben. Die AfD vereint derzeit mehrere Strömungen: Wertkonservative, rechtspopulistische aber auch sich selbst als basisdemokratisch-links verstehende.