aus Arpo Nummer 4, 2012

Griechenland: knappe Parlamentarische Mehrheit für das dritte Memorandum

Wachsender Widerstand

gegen eine geschwächte Regierungskoalition

Noch vor der Verabschiedung des dritten Memorandums schrieb Moisis Litsis ein ehemaliger Redakteur der Zeitung »Elefterotypia« an die Griechenland-Reisegruppe: »Wir sehen eine zunehmende Polarisierung in der griechischen Gesellschaft zwischen der Linken (jeder Art) und der Goldenen Morgenröte. Die PASOK bricht zusammen, die ND hat ernsthafte Probleme. So ist es für die Wähler leichter, sich nach ganz rechts zu wenden (Goldene Morgenröte) und es gibt keine anderen ›Macht‹-Parteien, denen die Öffentlichkeit eine Lösung zutraut. Wenn SYRIZA versagt, gibt es keine anderen linken Parteien, welche die Leute ohne Probleme anziehen könnte – die traditionelle KP hat Probleme, ANTARSYA (ein radikal linkes Bündnis) hat Schwierigkeiten, Masseneinfluss zu bekommen, obwohl viele Genossen bekannte Aktivisten sind.«

Am 7. November 2012 verabschiedete das griechische Parlament das von der Troika eingeforderte dritte Sparprogramm. Die Zersetzung der griechischen Gesellschaft, die Zerstörung ihrer sozialen Sicherungssysteme und die Demontage der parlamentarischen Demokratie schreiten weiter voran.

In den vergangenen drei Jahren vermochte der Widerstand nicht, die Spardiktate zu Fall zu bringen oder wenigstens zu entschärfen. Anlässlich der Verabschiedung des dritten Memorandums riefen die Gewerkschaften deshalb nicht nur zu einem eintägigen, sondern zu einem 48-stündigen Generalstreik auf. In etlichen Bereichen wurde der Arbeitskampf ausgedehnt. So legten die Beschäftigten die Athener Metro die ganze Woche über lahm. Die Streiks von Gemeindeangestellten und öffentlichen Bediensteten wurden und werden begleitet von der zeitweisen Besetzung von Kindergärten, Rathäusern, Ministerien usw. Der Widerstand, der im Sommer erlahmt schien, lebte wieder auf und radikalisierte sich. Zugleich offenbarte die Abstimmung im Parlament die Schwäche der Regierungskoalition aus ND, PASOK und DIMAR, von der Bevölkerung treffend als die »innere Troika« bezeichnet. Von ihren 179 Parlamentariern stimmten nur 153 zu (zwei Stimmen über der erforderlichen Mehrheit). Die Abweichler aus der ND und vor allem aus der PASOK wurden umgehend aus der Fraktion und Partei ausgeschlossen. Die parlamentarische Mehrheit der Koalition schmilzt dahin.

In den nächsten Monaten muss die »innere Troika« die im dritten Memorandum enthaltenen Einsparmaßnahmen konkret umsetzen. Das wird die soziale Abwärtsspirale weiter beschleunigen. Löhne und Renten sollen erneut um 10 bis 20 Prozent gekürzt werden, und das angesichts steigender Preise und neuer Steuererhöhungen. Die Heizölpreise beispielsweise haben sich gegenüber dem Vorjahr fast verdoppelt. Zahlreiche Hiobsbotschaften kündigen die Ausweitung der sozialen Katastrophe in den Wintermonaten an. Die Polarisierung der Gesellschaft und zugleich auch die Zersetzungserscheinungen in und zwischen den Regierungsparteien werden zunehmen. Es ist völlig ungewiss, ob die geschwächte Regierungskoalition dies überstehen kann.

Ein Scheitern der Regierung würde über Neuwahlen wahrscheinlich zu einer Linksregierung führen. Ob eine SYRIZA-Regierung die in sie gesetzten Hoffnungen und Erwartungen erfüllen kann, hängt nicht allein von ihr selbst ab. Im Rahmen der bestehenden Wirtschaftsordnung und angesichts der Kräfteverhältnisse innerhalb der EU bleiben die Spielräume für eine soziale Entlastung der griechischen Bevölkerung eng. Ohne den Druck einer breiten außerparlamentarischen Massenbewegung bliebe auch eine Linksregierung als »zahnloser Tiger« dem Diktat der Troika ausgeliefert. An einen Bruch mit der EURO-Zone – als mögliche Folge der einseitigen Einstellung der Schuldenzahlung und der Annullierung der bisherigen Spardiktate – wäre ohne diese Voraussetzung schon gar nicht zu denken. Es kommt also darauf an, ob es den politischen AktivistInnen in den betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen und den zahlreichen sozialen Selbsthilfeinitiativen gelingt, eine gemeinsame Perspektive zu erarbeiten, damit sie als gesellschaftliche Kraft Einfluss nehmen können. Das gilt auch, sollte die jetzige Regierungskoalition die nächsten Monate überstehen. Die zunehmend in Armut und Elend getriebene Bevölkerung wird sich noch stärker vom alten parlamentarischen System und den Parteien, die sich der Troika zur Verfügung stellen, abwenden. Die Auseinandersetzungen zwischen der Goldenen Morgenröte und dem linken politischen Lager werden sich im gleichen Maße intensivieren. Sollte der Widerstand gegen die äußere und innere Troika weiterhin erfolglos bleiben, werden die nationalistischen und faschistischen Kräfte Auftrieb erhalten.

Europaweiter Aktionstag: Streiks in Südeuropa, Arbeitsfrieden in Deutschland

Ein Hindernis für Erfolge des Widerstandes in Griechenland war, dass er bisher isoliert der vereinten Kraft des europäischen Kapitals, der Regierungen der Eurozone und des IWF entgegentreten musste. Erstmals in der Geschichte der Europäischen Union fand am 14. November ein länderübergreifender Aktions- und Solidaritätstag statt. Die Gewerkschaftsverbände aus Portugal und Spanien hatten darauf gedrängt, denn deren Regierungen folgen bei der Abwälzung der Krisenlasten den »griechischen Rezepten« der Troika. Der Europäische Gewerkschaftsbund hatte dem Drängen der südeuropäischen Gewerkschaftsverbände nachgegeben. »Der Exekutivausschuss befürwortet zwar eine solide Haushaltsführung, ist jedoch davon überzeugt, dass die Rezession nur gestoppt werden kann, wenn Haushaltsbeschränkungen gelockert und Ungleichgewichte beseitigt werden und darauf hingewirkt wird, ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erreichen, den sozialen Zusammenhalt zu fördern und die in der Grundrechtecharta niedergelegten Werte zu achten. […] Die Mitglieder des Exekutivausschusses wiederholen, dass der gesellschaftliche Dialog und Tarifverhandlungen ein zentraler Bestandteil des europäischen Sozialstaatsmodells sind.«

Während der Exekutivausschuss des EGB die Einhaltung des europäischen Sozialstaatsmodells anmahnte – es wurde/wird in Südeuropa bereits zu Grabe getragen – überließ er die Ausgestaltung des Aktionstages den nationalen Dachverbänden. In Portugal und Spanien kam es zu Generalstreiks und Demonstrationen. In Griechenland fiel die Beteiligung wegen des eine Woche zuvor stattgefundenen zweitägigen Generalstreiks gering aus. In Italien, Frankreich und Belgien gab es Arbeitskämpfe und Demonstrationen in einzelnen Branchen/Bereichen. In Deutschland herrschte Arbeitsfrieden.

Wenn es dennoch in einigen Städten zu gewerkschaftlichen Kundgebungen und Demonstrationen kam, dann war dies dem Engagement von Einzelpersonen aus gewerkschaftlichen Gremien oder aus dem DGB zu verdanken. Die Vorstände der Einzelgewerkschaften und des DGB bleiben ihrer Grundhaltung treu. Sie setzen angesichts der Krise in Südeuropa verstärkt auf die Kooperation mit dem Unternehmerlager und der Regierung. Durch die Stärkung des nationalen Standortes sollen die deutschen Unternehmen und ihre Beschäftigten vor der Krise und ihren Folgen geschützt werden. Der IG Metall-Vorsitzende Huber sprach dieses gewerkschaftliche Grundverständnis nur besonders deutlich aus, als er den spanischen Gewerkschaften empfahl, sich einer weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und einer Reduzierung des Lohnniveaus nicht zu widersetzen – zur Herstellung einer besseren Wettbewerbsfähigkeit.

Die Beteiligung von Kolleginnen und Kollegen aus den Betrieben an den wenigen gewerkschaftlichen Veranstaltungen blieb spärlich. Auch die Mehrheit der Lohnabhängigen duckt sich weg in der Hoffnung, sie selbst mögen von den Krisenfolgen verschont bleiben. Aus Solidarität mit den südeuropäischen Lohnabhängigen lassen sich bei uns nur sehr wenige KollegInnen mobilisieren.

Eyridice Bersi schrieb der Reisegruppe am 12. November aus Athen: »Während die deutsche Gesellschaft schlief, wurden die griechischen Schulden erfolgreich auf die Schultern des sogenannten ›amtlichen Sektors‹ abgeladen, also auf die europäischen Steuerzahler. [...] Es wird der Zeitpunkt kommen, da eure Regierung die Sparpolitik auf euch anwendet, wobei sie die Schuld wieder auf die Griechen schieben wird. Die Bühne wird bereitet für eine tiefe Spaltung zwischen uns, während die tatsächlich Verantwortlichen weiterhin business as usual machen werden [so tun, als ob nichts gewesen wäre]. Deshalb ein abschließender Vorschlag: Diejenigen unter euch, die verstehen, was tatsächlich vorgeht, könnten wenigstens versuchen, die andern zu warnen.«

Wir greifen diesen Vorschlag aufg. Die Materialsammlung soll einen Einblick in die aktuelle Situation Griechenlands vermitteln und unseren Lesern Argumente an die Hand geben. Die gesammelten Artikel und Materialien basieren auf den Erfahrungen der Griechenland-Reisegruppe, die sich mit 16 TeilnehmerInnen vom 15. bis zum 22. September in Athen und Thessaloniki aufhielt. Die Mitglieder der Reisegruppenahmen seither an zahlreichen Veranstaltungen in Deutschland teil und hielten die geknüpften Kontakte nachGriechenland aufrecht. Neben den Briefen aus Athen unddrei Referaten der Reisegruppe drucken wir auch die grundsätzlicheren Überlegungen von Christos Giovanopoulos ab.
Den Abschluss bildet der Artikel von Karl Heinz Roth, eine Kurzfassung seines jüngst bei VSA erschienen Buches zu Griechenland.                 ■