Welche Krise?
Euro-Krise, Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, Griechenland-Krise, Bankenkrise... Dem Leser der Wirtschaftspresse geht es ähnlich wie dem gewöhnlichen Besitzer einer kaputten mechanischen Uhr. Ein Blick aufs Uhrwerk verstärkt die Ratlosigkeit. Hier ein Rädchen, dort eine Feder oder ein anderes Rädchen – wie hängt das alles zusammen? Es äußern sich die Politiker, die Banker, die Volkswirte. Hätte man die DMark behalten sollen? Wäre es für die Griechen besser, sie hätten wieder die Drachme? Müssen die Deutschen den Rest des Eurolandes retten? Sind die Banken die Bösen oder sind es die Industriellen, die Exportüberschüsse verursachen?
Selbst wenn wir nicht auf alles eine Antwort finden, so ist doch für unsere Diskussion wichtig, dass wir für die vielen angesprochenen Aspekte eine angemessene Struktur finden, dass wir den Mechanismus des Krisen-Prozesses verstehen, dass wir verstehen, wie die Feder gespannt wird, wie ein Rad ins andere greift und wie dann die Stunde geschlagen wird.
Eine Vorgeschichte
Die vorangegangene Aktien- und Immobilienkrise 2007 und folgende Jahre in den USA, die auf viele andere Volkswirtschaften ausstrahlte hatte zur Hauptursache, dass die riesigen Profite, die in der produzierenden Wirtschaft angefallen waren, dort nicht profitbringend reinvestiert werden konnten. So hätten die Kapitalüberschüsse als totes Kapital brach gelegen, wenn sie nicht in der Finanzwirtschaft als lebendiges Geldkapital in sogenannte Finanzprodukte investiert worden wären. Die einfachsten dieser Finanzprodukte sind Aktien und Anleihen, also Beteiligungspapiere bzw. Schuldtitel. Komplizierter schon sind verbriefte Kredite, Hypotheken etc., die von den sie haltenden Banken zusammengefasst (verbrieft) und an Dritte weiter veräußert werden. Und sehr viel komplizierter können Derivate, also weiter abgeleitete Papiere, sein, die nicht mehr dingliche Werte besichern, sondern die Wetten auf Kursverläufe, Preisentwicklungen von Rohstoffen u. ä. bedeuten. Viele dieser Geschäfte, vor allem die zuletzt genannten, werden nur unter Finanzinstituten oder Großinvestoren wie Hedgefonds, Private Equity Fonds etc. abgeschlossen, kleine Privatanleger (das sind in diesen Kreisen auch einfache Millionäre) spielen dort direkt keine Rolle.1)
Diese Krise wurde bekanntlich so »gelöst« – oder besser: abgewickelt -, dass in den USA über 200 Banken in die Insolvenz gingen und die sogenannten »systemrelevanten« Geldinstitute durch staatliche Einlagen oder Bürgschaften »gerettet« wurden. Banaler ausgedrückt: Ein Teil der Investoren oder Spekulanten verlor sein Geld an andere, anderen wurde geholfen. Der Gesamtvorgang hatte also sowohl eine ökonomische als auch eine politische Seite. Bestimmte Unternehmer bzw. Unternehmergruppen haben größeren politischen Einfluss als andere und können am Markt Vorteile daraus ziehen. Die Gesetze des Marktes gelten zwar grundsätzlich für Alle, aber in Einzel- und Krisenfällen gibt es stets Bevorzugte und Benachteiligte auch innerhalb der herrschenden Klassen. Systemrelevant sind die großen Bourgeois-Vermögen, sie beherrschen über ein Geflecht von Verbindungen die Gesellschaft und vermögen gemeinsam die Gesellschaft für ihre Privatinteressen in Anspruch zu nehmen. Mit anderen Worten: Ihre Privatinteressen sind zusammen genommen das kapitalistische gesellschaftliche Gesamtinteresse.
Der ausführliche Verweis auf die
Krise Ende des vorigen Jahrzehnts, weil die aktuelle Krise deren Fortsetzung
unter anderen Vorzeichen ist. Die großen Industriestaaten hatten die
maßgeblichen Banken mit zusätzlichem Geld gerettet, d. h. sie hatten über
Beteiligungen und Kredite Kapital bereitgestellt,
um Insolvenzen zu
verhindern, die nach geltenden Regeln unausweichlich gewesen wären. Außerdem
hatten die Regierungen milliardenschwere Konjunkturprogramme vor allem für die
Autoindustrie aufgelegt. Damit einher ging eine Erhöhung der Staatsverschuldung.
Der Effekt war, grob gesagt, dass mit staatlicher finanzieller Unterstützung das
Profitemachen der großen Industrie- und Finanzunternehmen weiter angeschoben
wurde, zu Lasten der Einkommen der privaten Haushalte; also ein weiteres
Auseinanderklaffen der Einkommen und Vermögen der Bourgeoisie und der
lohnabhängigen Klassen.
Die Konjunkturprogramme kurbelten zwar kurzfristig den Absatz verschiedener Industrien an, wie z. B. der Autoindustrie und ihrer Zulieferer. Sie verhinderten aber auch einen Abbau der mittlerweile eingetretenen Überkapazitäten. Wie groß diese Überkapazitäten in verschiedenen Branchen weltweit bereits sind, wird deutlich, wenn z. B. von der Frachtschifffahrt, von den Kfz-Herstellern oder der Stahlindustrie Kapazitätsüberhänge von zwanzig Prozent und mehr gemeldet werden. Die Logik des kapitalistischen Produktionsprozesses bringt es mit sich, dass die Kluft zwischen der Kaufkraft der lohnabhängigen Klassen und der Profitmasse der herrschenden Klassen wächst. Wenn die Regierungen, wie geschehen, durch ihre Interventionen an den Finanz- und den Warenmärkten, den Abbau der Überkapazitäten zeitweilig verhindern, weil Parlamentswahlen anstehen oder soziale Unruhen vermieden werden sollen, dann verschieben sie nur den Zeitpunkt der Betriebsschließungen oder Insolvenzen.
Der Euro im Wechselbad der Krise
So zutreffend die letzte Feststellung auch prinzipiell ist, so muss sie doch modifiziert, relativiert werden, um der Realität gerecht zu werden. Denn man muss berücksichtigen, dass die reale kapitalistische Welt aus vielen miteinander konkurrierenden kapitalistischen Klassen besteht, und dass der Verlust des Einen häufig der Gewinn des Anderen ist. Konkret heißt das, dass der Abbau der bestehenden Überkapazitäten nicht linear über die Weltwirtschaft erfolgt, sondern dass z. B. aus Wettbewerbsgründen oder aus technischen oder politischen Gründen Produktionsstätten eher in den einen als in den anderen Ländern geschlossen werden. General Motors und Volkswagen werden wahrscheinlich ihre Heimatmärkte stärker schonen, bei Fiat-Chrysler muss man sich allerdings heute schon fragen, welches der Heimatmarkt ist (wahrscheinlich nicht Italien). Auch politische Interventionen, z. B. Handels- und Währungsabkommen, spiegeln Machtverhältnisse wider und können für den Einen die Marktkräfte besänftigen, während sie die Anderen im Regen stehen lassen.
Die Eingliederung des ehemals sozialistischen Lagers, insbesondere Chinas und Russlands, der Wirtschaftsaufschwung in Brasilien und teilweise in Indien sowie in den südostasiatischen Staaten hatte die Sphäre für das anlagensuchende Kapital erheblich ausgeweitet. Die damit verbundene Ausweitung des Weltmarktes trieb vor allem die Investitionsgüterindustrie und in der Folge die Produktion von Konsumgütern an. Das bedeutete auf der einen Seite eine Entlastung, weil durch die riesigen Investitionen in Produktionsanlagen, Verkehrswege, Städtebau, öffentliche und private Transportmittel usw. viel Geldkapital absorbiert werden konnte. Aber das war nur ein Teil des vorhandenen anlagensuchenden Geldkapitals. Und die Profite aus den Geschäften in der neuen kapitalistischen Welt vergrößerten wiederum das Problem der profitablen Geldanlage. Höchst wahrscheinlich hat die Ausdehnung des Weltmarktes ein früheres Ausbrechen der großen Wirtschaftskrise als Überproduktionskrise verzögert und eine Diversifizierung der Folgen für verschiedenen Branchen (z. B. Stahl, Auto, Energie) bewirkt. Aber die Geldkapital-Masse, die den Sachwerten gegenübersteht, und für die es in der Produktionssphäre keine Anlagemöglichkeiten gibt, ist absolut (vielleicht auch relativ) erheblich angewachsen und trägt die Spekulationswelle auf den Finanzmärkten.
Vom Geschehen auf diesen Finanzmärkten geht zu einem erheblichen Teil die gegenwärtige Euro-Krise aus. Die Tatsache einer Staatsverschuldung und auch die relative Höhe der Staatsverschuldung bedingt für sich genommen noch keinen Anlass für eine wirtschaftliche Krisensituation; Japan und die USA geben dafür das Beispiel. Das Hauptproblem für die verschuldeten Staaten besteht jedoch in der Refinanzierung ihrer Schulden – hier liegt das Haupteinfallstor für die Spekulation der potentiellen Geldgeber gegen den potentiellen Schuldner. Wenn die Fähigkeit zur Rückzahlung aus welchen Gründen auch immer in Frage gestellt wird, und die notwendige Umschuldung immer teurer wird, weil die Finanziers auf immer höheren Zinsen bestehen, ist es möglicherweise nur eine Frage der Zeit, bis der Schuldner sich insolvent bekennen muss. Das ist auf der einen Seite ein ökonomischer Vorgang; aber in der Sphäre der Staatenwelt ist es zugleich ein politischer Vorgang, d. h. außerökonomische Aspekte spielen bei der Beurteilung des Risikos bei der Kreditvergabe eine große Rolle.
Diese Verquickung ist am Beispiel der sog. Euro-Krise gut zu erkennen. Die Unfähigkeit Griechenlands, seine Schulden zu begleichen bzw. die Umschuldungen zu Marktbedingungen zu finanzieren, hatte schließlich zum Schuldenschnitt geführt; ein zweiter Schuldenschnitt wird nicht ausgeschlossen. Die Annahme, dass nun auch andere Euro-Staaten, wie Portugal, Spanien, Italien und vielleicht auch Frankreich, zu höheren Risikozinsen gezwungen werden können, wurde am Markt bestätigt. Der Spread, d. h. der Zinsabstand etwa zu deutschen Staatspapieren, den alle diese Länder für neu aufgenommene Kredite zahlen müssen, liegt z. T. über fünf Prozent, im günstigsten Falle über zwei Prozent. Damit wird der Handlungsspielraum der betroffenen Staaten, sei es auf dem Felde der Sozialpolitik, aber auch in der Wirtschafts- und Strukturpolitik erheblich eingeschränkt, weil der Schuldendienst immer größeres Gewicht erhält. Das bereits vorhandene wirtschaftliche und soziale Ungleichgewicht zwischen den Staaten der Eurozone würde bei einem Fortgang der skizzierten Entwicklung allein schon aus diesem Grund beträchtlich anwachsen. Selbstverständlich gibt es auch weitere wichtige Elemente, die für die Ungleichheit zwischen in der Euro-Zone maßgeblich sind, wie Industriedichte und -struktur, Bildungs- und Ausbildungswesen, Arbeitsmarkt, Rohstoff- und Energieverfügbarkeit usw. Diese Unterschiede spielen in der Konkurrenz eine Rolle und sie sind Handlungsfelder sowohl für die Politik der einzelnen Staaten wie auch der überstaatlichen Europäischen Gremien. Aber wenn einzelne Staaten sich nur noch zu exorbitanten Zinsen umschulden könnten, wäre ihnen jeder Einfluss auf die weitere Gestaltung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Strukturen entzogen – und damit auch ihren nationalen herrschenden Klassen.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich die grundsätzliche Einigung aller Euro-Partner, den Finanzmärkten geschlossener gegenüber zu treten. Die Interessen- und damit Meinungsunterschiede spielen im Hinblick auf die Konditionen eine Rolle, unter denen der Schulterschluss stattfinden kann und soll.
Die Europäische Union wie auch die Euro-Zone sind in erster Linie Ergebnisse politischer Entscheidungen der beteiligten Nationen und ihrer herrschenden Klassen. Die lohnabhängigen Klassen tragen im großen und ganzen den Einigungsprozess mit, weil er mit Erleichterungen auch für sie verbunden ist: Freizügigkeit im Reiseverkehr, Niederlassungsfreiheit und erweiterter Arbeitsmarkt, Wegfall des Geldwechsels beim Auslandsurlaub. Viele erhoffen sich davon auch Sicherheit vor künftigen innereuropäischen Kriegen.
Gleichwohl bestehen die historisch
gewachsenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Unterschiede zwischen den
ungleich großen und ungleich mächtigen Staaten fort. Auch innerhalb der
Gemeinschaft ist die Konkurrenz der Unternehmer und Unternehmen nicht
aufgehoben. Die Tendenz zur Zentralisierung und Monopolisierung des Kapitals,
wie Marx es nannte, wirkt auch hier fort. Dennoch hatten die Bourgeoisien den
Willen und die Macht, sich gegenüber
dem erweiterten Weltmarkt zu verbünden,
um dort ein größeres Gewicht zu haben – politisch und wirtschaftlich. Wie
unabweisbar notwendig das war und ist, zeigen die wiederholten Beschwerden über
den Handelsprotektionismus, den gerade die G-20-Staaten zunehmend aufbauen.2)
Nur gemeinsam, im Block, können die EU-Länder vorteilhafte Handelsbedingungen
erwirken. Eine gemeinsame Finanzpolitik, die ein geschlossenes Auftreten an den
internationalen Finanzmärkten ermöglichte, hätte aber unterschiedliche
Konsequenzen für die Staaten, je nachdem wie sie gestaltet würde. Eine strikte
Austeritätspolitik für alle Staaten gleichermaßen würde diejenigen begünstigen,
die bereits die besten Ausgangsbedingungen im Hinblick auf Industrie, staatliche
und private Infrastruktur u. ä. haben. Sie wäre aber für all jene, die
einschlägigen Nachholbedarf haben und ihn nur über Schulden finanzieren könnten,
wie eine Fessel. Ohne den strikten Sparzwang und die damit verbundene geringere
Kreditaufnahme an den Märkten würden allerdings wahrscheinlich die Schuldzinsen
höher sein.
Man kann also nicht beides zugleich haben: Die niedrigen Zinsen wie für die deutschen Staatspapiere aktuell und gemeinsame Kreditaufnahme aller EU-Länder. Die von der Wirtschaftspresse hierzulande unter dem Titel »Die Deutschen sollen zahlen« geführte (demagogische) Diskussion ist eher unter taktischen als unter strategischen Gesichtspunkten angelegt. Allen Beteiligten ist klar, dass am gemeinsamen Auftreten der Euro-Länder auf den Finanzmärkten kein Weg vorbei führt, wenn nicht die Union insgesamt zerbrechen soll. Es geht in Wirklichkeit darum, welchen Einfluss die wirtschaftlich starken Mitglieder auf die schwächeren Ausüben können und darum, wie es verfahrensmäßig sichergestellt werden kann, dass Beschlüsse letztendlich durchgesetzt werden können gegen bestimmte Staaten. Dabei ist sicherlich allen Beteiligten klar, dass es im Felde der Politik keine völlige Sicherheit geben kann, solange in der inneren Politik der Länder die Bevölkerung und insbesondere die lohnabhängigen Klassen nicht ausgeschaltet werden können. Solche Vereinbarungen, wie sie nun getroffen werden müssen, sind deshalb äußerst komplex, schaffen neben Gewinnern selbstverständlich auch wieder Verlierer, national wie international. Es sind also ernsthafte Kämpfe die in den Kommissionen und Verhandlungsrunden geführt werden, keineswegs nur Schaufenster-Veranstaltungen für das Publikum. Und es geht, da es über das Grundsätzliche, also den Weiterbau der Euro-Zone, keinen wirklichen Dissens gibt, um viele Detailfragen. 3. Juli 2012 ■
1) In diesem Zusammenhang immer noch
sehr informativ: Rainer Roth, Finanz- und Wirtschaftskrise: SIE kriegen den
Karren nicht flott...,
Klartext e. V. 2009,
www.klartext-info.de
2) Frankfurter Allgemeine Zeitung 19. 6. 2012 »G-20-Staaten bauen die meisten Handelsbarrieren auf«