aus Arpo Nummer 4, 2011

■ Die Bourgeoisien wollen die Einigung vorantreiben

Staatsschuldenkrise treibt europäische
Integration voran

Bei ihrem Krisengipfel am 26./27. Oktober in Brüssel haben die Staats- und Regierungschefs der Euro-Staaten wichtige Grundlagen für eine gemeinsame Finanz- und Haushaltspolitik der Eurozone gelegt. Unter dem Rettungsschirm des Stabilisierungsfonds EFSF, der in zwei Jahren in einen Europäischen Währungsfonds namens Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) umgestaltet werden soll, wurde ein Stützungsverfahren für die Euro-Währung mit einem Volumen um etwa eintausend Milliarden Euro vereinbart. Zugleich wurde Italien – teilweise erfolgreich – gedrängt, seine Staatsverschuldung deutlich zu reduzieren.

Auf dem Papier gab es schon seit längerem Elemente einer gemeinsamen Fiskalpolitik – die sogenannten Maastricht-Kriterien, nach denen die Staaten sich in ihren jährlichen Haushalten jeweils um maximal 3 Prozent und insgesamt nicht höher als 60 Prozent ihres Brutto-Inlandsprodukts verschulden durften. Deutschland und Frankreich verstießen 2004 als erste gegen diese Regel. Die Europäische Kommission hätte daraufhin ein Defizit-Verfahren einleiten müssen, das mit empfindlichen Geldstrafen für die Sünder hätte enden können; aber dazu kam es aus politischen Gründen nie. Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 wurden dann nahezu flächendeckend im Euroraum die Defizitgrenzen überschritten, um Programme zur Wirtschaftsförderung zu finanzieren, z.B. Neuwagenkäufe mit staatlichen Beihilfen.

Bis dahin war es zwar ärgerlich, wenn einzelne Euro-Staaten gegen die vereinbarten Verschuldungsregeln verstießen, aber es gab keine sicht- und spürbaren Konsequenzen für derartige Regelverstöße. Das änderte sich schlagartig, als eines der kleinsten und wirtschaftlich unbedeutendsten Länder der Euro-Zone, Griechenland, von den internationalen Finanzmärkten in den Blick genommen wurde. Griechenland konnte Kredite für seine Staatsschulden in den letzten Jahren nur noch zu exorbitant hohen Zinsen von zuletzt um die 15 Prozent erhalten, während z.B. deutsche Staatsschuldverschreibungen für um die zwei Prozent Rendite Käufer fanden. Allen Beteiligten – privaten Investoren ebenso wie den europäischen Regierungen – war klar, dass Griechenland kurz vor dem Staatsbankrott stand, weil es seine Schulden nie und nimmer würde bezahlen können.

Die Situation wurde aber insbesondere dadurch dramatisch, weil nach Griechenland weitere und größere Volkswirtschaften der Eurozone in den Blick der Investoren gerieten, die ebenfalls hohe Staatsschulden und eine zweifelhafte wirtschaftliche Perspektive hatten – Irland, Portugal und Spanien und zuletzt auch Italien. Auf Dauer steigende Zinslasten für ihre Staatsanleihen würden auch für diese Länder den Weg in den Abgrund geöffnet haben. Damit war die Frage für die Gesamtheit der Euro-Staaten gestellt, ob sie einen schrittweisen Erosionsprozess der Eurozone hinnehmen würden, in welchem ein Staat nach dem andern von den internationalen Großinvestoren durch immer höhere Risikozinsen sozusagen zu Tode getestet würde; oder ob sie durch stützende Eingriffe für schwächelnde Mitglieder die Risiken
für Kreditausfälle gegenüber den Investoren entscheidend verringern und dadurch die Zinslasten für die bedrohten Staaten im erträglichen, d. h. rückzahlbaren Bereich halten.

Wir wissen seit kurzem definitiv, wie die wesentlichen Grundsatzentscheidungen aussehen, welche die Euro-Staaten getroffen haben: Sie wollen die Eurozone gegen Spekulationen verteidigen, indem ein finanzielles Schutzpolster aus gemeinsamen Garantieversprechen aller Euro-Mitglieder in Höhe von erst einmal etwa einer Billion Euro gebildet wird. Schuldenrückführungen in den Staatshaushalten der Mitglieder und Einhaltung der Haushaltsdisziplin im Hinblick auf die Maastricht-Kriterien bei gleichzeitiger Überwachung und ggf. Sanktionierung durch die Europäische Kommission wurden ebenso vereinbart. In den noch bevorstehenden Verhandlungen über die Einzelheiten der Umsetzung der gemeinsamen Grundsätze werden die unterschiedlichen Interessen von Parteien, Regierungen, öffentlichen und privaten Kreditinstituten und industriellem Kapital aufeinander prallen. Davon wird das Eine oder Andere nach Außen sickern, beileibe nicht alles.

Der Zwang zur Europäischen Union

Von Anfang an war die europäische Einigung auch ein Ergebnis äußeren Zwangs. Die militärische und politische Schwäche der deutschen Bourgeoisie unmittelbar nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg, die Teilung Europas in einen sozialistischen und einen kapitalistischen Block und das damalige US-Interesse an einem wirtschaftlich und militärisch starken westeuropäischen Verbündeten wirkten zusammen. Erst dadurch konnten die Rivalitäten vergangener Jahrhunderte zwischen den herrschenden Klassen vornehmlich Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens so weit überwunden werden, dass es zu einem gemeinsamen, einheitlichen Wirtschaftsraum kam.
Die Bourgeoisien der kleineren Mitgliedsländer hatten keine andere Wahl, als sich anzuschließen; das galt selbst für die Schweiz, die, obwohl kein formelles Mitglied der EU, sich doch in allen wesentlichen Aspekten den Rechtsvorschriften der EU anpassen musste, bis hin zur Integration in den Schengen-Raum seit Ende 2011.

Die europäische Integration fand zwischen ihren Mitgliedern zwar ohne Kriege, nicht jedoch ohne scharfe Interessenkonflikte statt. Die Öffnung des gemeinsamen Marktes hatte für die einzelnen Wirtschaftssektoren der Mitgliedsländer höchst unterschiedliche Folgen. Es ging darum, die Interessen einflussreicher nationaler Bourgeoisiefraktionen zu verteidigen, z.B. in Frankreich die der Agrarproduzenten, in Großbritannien die des Finanzsektors, in Deutschland die der Industrie. Die Gemeinschaft konnte nur entstehen, weil allen Mitgliedern Zugeständnisse gemacht werden konnten und sie ihrerseits Zugeständnisse an Andere machen konnten, denn die Vorteile der Union überwogen die Nachteile. Als wesentliches Element des Ausgleichs dienen die Subventionen aus den Brüsseler Kassen – Ausgleichszahlungen für die Landwirte, Beihilfen aus den Strukturfonds der Gemeinschaft an die Mitgliedsländer. Dieses Prinzip Eine-Hand-wäscht-die-Andere erleichterte in der Folge die Aufnahme und Eingliederung neuer Mitglieder, bis hin zur heutigen Union der 27. Für Streit sorgt allerdings immer wieder, dass die Einen mehr profitieren als die Andern. Es gab und gibt stets Konflikte, die jedoch in der Vergangenheit immer durch Kompromisse beigelegt werden konnten, ohne die Union zu spalten.

Nach den Worten des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Jean-Claude Trichet, war der einheitliche amerikanische Markt das ursprüngliche Vorbild für die Europäische Union.1) Dieser Gedanke lag nahe, ebenso wie der Vergleich der gegenwärtigen Integrationsschritte mit der Situation der damals 13 US-Bundesstaaten vor der Einführung der amerikanischen Verfassung im Jahr 1787, die der Zentralregierung die fiskalische Hoheit übertrug.
2) Heute sind die Gründe für den Zusammenhalt andere als zur Zeit der Blockkonfrontation. Man kann wohl unterstellen, dass Trichet die Haltung der maßgeblichen europäischen Bourgeoisie widerspiegelt, wenn er sagt, dass es »aus wirtschaftlicher Sicht heute gewichtigere Gründe (gibt), die Einigung voranzutreiben, als unmittelbar nach dem Krieg. Damals waren China, Indien oder Lateinamerika noch nicht von so großer Bedeutung wie heute. Wären wir Europäer in unseren jeweiligen Ländern auf uns allein gestellt, würden wir zunehmend wie Zwerge wirken.« (FAZ 19. 10. 2011, siehe FN 1) Es ist sicherlich Diplomatie, wenn Trichet hier darauf verzichtet, auch die USA zu benennen. Denn auch die US-Bourgeoisie zöge wohl Vorteile daraus, wenn sie die europäischen Staaten bei Wirtschaftsverhandlungen gegeneinander ausspielen könnte statt sich einem einzigen Verhandlungsführer gegenüber zu sehen.

Die gemeinsame Währung ist eine Konsequenz des gemeinsamen Wirtschaftsraums

Über fast jeden Aspekt der europäischen Integration gibt es unterschiedliche Auffassungen – sowohl innerhalb der herrschenden Klassen wie auch unter deren ideologischen Hilfskräften, den bürgerlichen Ökonomen. Was so leichthin als das bürgerliche oder kapitalistische Gesamtinteresse bezeichnet wird, ist ja nichts von vornherein Gegebenes, sondern Ergebnis von zum Teil langwierigen Auseinandersetzungen, deren Ausgang häufig unsicher ist. Die Widerspiegelung dieser Kämpfe um Profit und Macht in den Parlamenten und in den Medien ist nicht selten selbst verwirrend. Da ist es schon richtig, wenn Gregor Gysi, der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, am 27. Oktober im Plenum sagt, dass die Vorgänge um die Staatsschulden-Krise nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von Vielen im Parlament nicht verstanden werden. Das betrifft in erster Linie die vielen komplizierten rechtlichen und finanztechnischen Aspekte der sogenannten Rettungsaktion.

In den grundlegenden politischen Fragen lässt sich allerdings Klarheit schaffen. Zu diesen gehört die Frage, ob es einer gemeinsamen Währung für den Euro-Raum bedarf. Es drängt sich da die Gegenfrage auf, warum ein gemeinsamer Wirtschaftsraum keine gemeinsame Währung haben sollte. Was würden die USA dadurch gewinnen, wenn jeder ihrer fünfzig Staaten eine eigene Währung hätte? Oder anders gefragt: Welche Entwicklung wäre der EU vorgezeichnet, wenn die maßgeblichen Teile der europäischen herrschenden Klassen nicht das Ziel der ökonomisch wie fiskalisch Vereinigten Staaten von Europa (in Analogie zu den USA) hätten? Ohne die Konkurrenz durch wirtschaftlich starke oder aufstrebende Mächte, wie die USA und die sogenannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), wäre eine zentralisierte EU wenigstens für die großen Mitglieder, wie Deutschland und Frankreich, vielleicht nicht überlebenswichtig.

Aber diese Konkurrenz gibt es, und jede neue Wirtschaftskrise verschärft den Konkurrenzdruck untereinander. Also gibt es die Alternative zu einer fortschreitenden europäischen Integration für die großen europäischen Kapitalinteressen gar nicht. Mit den Worten des bereits zitierten Jean-Claude Trichet: »Unsere Währungsunion ist das am weitesten vorangeschrittene Konzept im Prozess der Einigung... Man kann sich auch den gemeinsamen Markt der Vereinigten Staaten kaum mit verschiedenen Währungen in Florida und Kalifornien vorstellen.«

Der Euro als gemeinsame Währung eines führenden Teils der EU wurde mit den Worten des Mitherausgebers der FAZ, Holger Steltzner, »... als unpolitische Währung mit einem Stabilitätsversprechen eingeführt. Eine politisch unabhängige Europäische Zentralbank sollte über stabile Preise wachen. Regierungen und Organe der Europäischen Union verpflichteten sich, die Unabhängigkeit der EZB zu beachten und Mitglieder der Zentralbank nicht zu beeinflussen. So steht es im Maastrichter Vertrag.« (FAZ, 20. 10. 2011) Wo nun mit der kombinierten Staatsschulden- und Euro-Krise politische und nicht nur währungstechnische Antworten erforderlich sind, zeigt es sich, dass die Erwartungen an eine »unpolitische Währung« haltlos geworden sind. Mit der internationalen Finanzspekulation gegen einzelne Euro-Staaten testen die Märkte den Willen und die Macht der maßgeblichen europäischen Bourgeoisie, die Euro-Zone und damit die vorangeschrittene Integration zu verteidigen.

Wie jeder Krieg, so hat auch dieser Wirtschaftskrieg, der mit den Mitteln der Kredite und Kreditverweigerungen und der Währungsspekulationen geführt wird, seinen Preis. Strauchelnde Euro-Staaten müssen gestützt, Kredithilfen müssen gewährt werden, im Falle Griechenlands müssen Schulden gestrichen werden, die Gläubiger verlieren Geld. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch andere, größere Länder Hilfen brauchen. Es ist nicht einmal sicher, ob der Garantierahmen von eintausend Milliarden Euro letztlich ausreichen wird. Dies alles sind nebensächliche Gesichtspunkte vor der einen zentralen Frage: Hält die gemeinsame Front der herrschenden Klassen Europas? Wenn ja, dann sind sie durchaus in der Lage, die Angriffe von außen abzuwehren. Um die Kosten der Abwehr geht es insbesondere bei den aktuellen Verhandlungen um die Umschuldung Griechenlands, d.h. des teilweisen Forderungsverzichts der Gläubiger. Wie auch um die Frage der Kredithilfen für Mitgliedsländer, die sich an den internationalen Märkten ohne Unterstützung aus der gemeinsamen Kasse nur zu wahnwitzig überhöhten Zinsen verschulden könnten.

Allerdings muss die grundsätzliche Einigung über die Verteidigung der Euro-Zone in konkrete Handlungsschritte umgesetzt werden – und das geht sichtlich langsamer: Da geht es u.a. darum, welche Banken – private oder öffentliche – welche Verluste hinnehmen müssen, welche Banken ihr Kernkapital zur Risikoabsicherung erhöhen müssen, wie Regierungen gezwungen werden können,können, Staatsschulden abzubauen und zu begrenzen. Derartige Verhandlungen sind langwierig und sie finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Sie werden auch nicht von den auf Popularität und auf Wiederwahl bedachten Politikern geführt, sondern von den Fachleuten aus den Ministerien einerseits und den Banken, Großinvestoren und den mächtigen Industrieverbänden andererseits, die für die Kapitaleigner sprechen, mit denen sie sich fortlaufend abstimmen. Während die Staats- und Regierungschefs beim Brüsseler Gipfeltreffen innerhalb von etwa 24 Stunden sich einigten, werden die Folgeverhandlungen wohl erst Ende November zu Ergebnissen führen.

Europa der Völker?

Die Europäische Union war das Werk der herrschenden Klassen der europäischen Nationalstaaten und das ist bis heute so geblieben. Wie in jedem anderen Verbund auch, gibt es hier Hierarchien: Die großen Wirtschaftsmächte und die kleinen und kleinsten; alte Mitglieder, die in den bürokratischen Apparaten der Brüsseler Kommission gut vernetzt sind, und Neuankömmlinge, die erst noch lernen müssen, auf welchen Pfaden sie ihre Interessen am besten durchsetzen können. Dass die wirtschaftlichen Erwartungen der teilnehmenden Bourgeoisien erfüllt wurden, lässt sich am deutlichsten daran ablesen, dass mittlerweile zwischen 60 und 70 Prozent des Außenhandels der Staaten innerhalb der 27er Union stattfindet. Selbst die deutsche Wirtschaft, die ein großes außereuropäisches Exportvolumen hat, setzt traditionell weit über 50 Prozent ihrer Ausfuhren innerhalb der EU ab.

Die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes liegt so sehr lange noch nicht zurück. Er wurde als Ziel zwar bereits in den fünfziger Jahren im EWG-Vertrag benannt, jedoch erst Anfang 1993 mit dem Wegfall der Zollkontrollen und dem Abbau zahlreicher nichttarifärer Handelshemmnisse3) zwischen den Mitgliedstaaten der EU vollendet. Nach dem gemeinsamen Markt für Waren und Dienstleistungen entstand dann auch der gemeinsame Arbeitsmarkt.
Nach den Schengen-Abkommen fielen die Grenzkontrollen an den Innengrenzen der EU im März 1995 weg. An all diesen Entwicklungen waren die Lohnabhängigen faktisch nicht beteiligt. Die nationalen Gewerkschaftsapparate, die über Vertretungen in Brüssel verfügen, agierten mehr oder weniger als Co-Manager ihrer heimatlichen Industrie-Lobbyisten, spielten also im Wesentlichen die gleiche Rolle wie zu Hause.

Gleichwohl hatte und hat die europäische Integration weitreichende Folgen auch für die lohnabhängigen Klassen. Die gravierendste Folge ist sicherlich das Ausbleiben von Kriegen unter den Mitgliedsstaaten der EU und die geringe Wahrscheinlichkeit von künftigen Kriegen. Das wussten vermutlich jene Generationen am meisten zu schätzen, die zwei Weltkriege am eigenen Leib durchleben mussten. Zugleich entwickelt sich im Gemeinsamen Markt die Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und der Sozialsysteme schneller als zwischen isolierten Nationalstaaten, weil die Konkurrenz um den Preis der Ware Arbeitskraft unmittelbarer durchschlägt. Das wird zur Zeit vor allem in den Bemühungen einzelner Regierungen sichtbar, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen und die regelmäßige Wochenarbeitszeit einheitlich auf 40 Stunden zu setzen.

Wer,wie Griechenland unmittelbar Hilfen der EU benötigt, wird massiv unter Druck gesetzt, die nationalen Gesetze entsprechend anzupassen und vor allem im öffentlichen Dienst Entlassungen vorzunehmen und zu rationalisieren. Die Schaffung des europäischen Arbeitsmarktes, die Befreiung der Ware Arbeitskraft von ihren nationalen Grenzen innerhalb der EU, war logische Folge und Abrundung des Gemeinsamen Marktes. Für junge und qualifizierte Arbeitskräfte, die, weil rar, eine gute Verhandlungsposition am Markt haben, bringen die entsprechenden Regelungen überwiegend Vorteile. Für Beschäftigte in Arbeitsbereichen mit geringer Qualifikation im Einzelhandel, im Transportgewerbe oder in Callcentern erhöht die Marktöffnung in vielen Fällen die Konkurrenzsituation untereinander und hält die Löhne niedrig. Dies führte dazu, dass soziale Bewegungen seit Jahren auf die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns – etwa in Höhe von zehn Euro je Stunde – drängen und bei den Gewerkschaften wie auch bei Teilen der SPD Resonanz fanden. Allerdings besteht auch bei Teilen der deutschen Bourgeoisie, etwa im Dienstleistungssektor, eine Tendenz, der Schmutzkonkurrenz durch Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen einen Riegel vorzuschieben, um die indirekte Subventionierung des Niedriglohnsektors durch die Sozialkassen (z.B. lohnergänzende Sozialhilfeleistungen) zu beenden.

Der europäische Raum wird von den herrschenden Klassen in Konflikten und Kompromissen gestaltet. Dabei nehmen sie über die politischen Parteien notgedrungen gewisse Rücksichten auf Stimmungen und Reaktionen der nationalen Bevölkerungen; sie handeln nicht im luftleeren Raum. Aber die Dimensionen der Entscheidungen, wie zuletzt im Zusammenhang der Euro-Krise, erschließen sich nur den gesellschaftlichen Klassen, die fähig sind, ihre gemeinsamen Interessen zu formulieren und durchzusetzen.

Die herrschenden Klassen befinden sich nie im Irrtum über ihre Interessen, schrieb der marxistische Historiker Franz Mehring in seiner Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Die beherrschten Klassen müssen sich die Einsicht in ihre Interessen in langwierigen und harten Kämpfen mit ihren Herrschern erwerben. Die europäischen Arbeiterklassen sind noch nicht so weit.                                                                                                             12.11.2011

1) Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), 19. 10. 2011
2) Christopher Sims, Nobel-Preisträger Wirtschaftswissenschaften, im Gespräch mit der FAZ, 27. 10. 2011

3) Tarifäre Handelshemmnisse sind Zölle und andere Grenzabgaben; unter nichttarifären Handelshemmnissen versteht man u. a. nationale Produktstandards,
technische Normen u.ä., die den Warenaustausch behindern, wie z.B. unterschiedliche Steckersysteme bei Elektrogeräten, unterschiedliche
Emissionsvorgaben für Maschinen etc. In der EU wurde das Äquivalenz- oder Ursprungslandprinzip eingeführt, wonach jedes Produkt, welches in einem der EU-Länder zugelassen ist, in die anderen EU-Länder ausgeführt werden darf.