aus Arpo Nummer 1, 2011

Revolten in Tunesien und Ägypten

Mit dieser ersten kurzen Stellungnahme zu den Aufständen in Tunesien und vor allem in Ägypten wollen wir unsere grundsätzliche Position zu den Ereignissen unter dem Gesichtspunkt der Interessen der gesellschaftlichen Klassen Ägyptens darlegen. Wir werden in der kommenden Ausgabe unserer Zeitschrift näher auf die geschichtlichen Hintergründe, die ökonomischen und sozialen Details der Auseinandersetzungen eingehen, die für das Verständnis der weiteren Entwicklung von Bedeutung sind 1).

Die Staaten des nördlichen Afrika, die zum großen Teil aus antikolonialen Kämpfen gegen britische und französische Oberherrschaft nach dem II. Weltkrieg entstanden waren 2), galten in der Sprache der internationalen Diplomatie überwiegend als »stabil«. Gemeint war damit, dass die politischen und militärischen Strukturen, die sich im Schoße der nationalen Befreiungsbewegungen gebildet hatten, in den jeweiligen Gesellschaften fest verankert waren und dass der Gewaltapparat aus Polizei, Geheimdiensten und Militär die Bevölkerung zuverlässig kontrollieren würde. Das war eine Illusion.

So unterschiedlich Tunesien mit etwa einem Achtel der Einwohner und einer Fläche von etwa einem Sechstel im Vergleich zu Ägypten ist, so gibt es gleichwohl Verbindendes genug, dass sich nun in den Massenprotesten gegen die Regierungen Luft macht. Es sind in erster Linie die den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt lähmenden Machtstrukturen, die in Widerspruch zur Gesellschaft geraten sind. Beides sind Länder mit einer jungen Bevölkerung (um die 50 Prozent sind bis zu 25 Jahre alt), die überdurchschnittlich unter Arbeitslosigkeit leidet (zwischen 40 und 60 Prozent dieser Altersgruppe). Die 1956 erfolgreichen, ursprünglich fortschrittlichen tunesischen Führer unter Bourgiba gegen das französische Protektorat, die gegen König Faruk putschenden ägyptischen Offiziere des Jahres 1952 unter Gamal abdel Nasser fanden keine kapitalistischen Gesellschaften mit einer politisch herrschenden Bourgeoisie vor. Sie schufen Scheindemokratien mit monopolistischen Einheitsparteien, die eine demokratische Legitimation simulieren sollten. Sie hielten sich politisch an der Macht, indem sie die von der politischen Gestaltung ausgeschlossenen gesellschaftlichen Klassen gegeneinander ausspielten. Die tatsächliche Macht lag bei einem engeren Zirkel von Revolutionsführern und deren Familien. Die verstaatlichten Banken und Industrien, die Transfereinnahmen aus Entwicklungshilfe, Suez-Kanal-Gebühren etc. waren Quellen ihrer Bereicherung. Im Laufe der Zeit wurden diese Familien selbst Bestandteil der bürgerlichen Klassen, hielten aber durch ihre politische Macht eine Monopolstellung, die sie dem Wettbewerb mit ihren bürgerlichen Klassengenossen entzog.

Im Falle Ägyptens, dessen weltpolitische Bedeutung die Tunesiens weit übersteigt, hatte es seit den 80er Jahren halbherzige Reformbestrebungen seitens der Führung gegeben. Diese »Modernisierung«, die mit dem Namen von Husni Mubaraks Sohn Gamal verbunden ist, erweiterte den Kreis der herrschenden Clans geringfügig um einige großkapitalistische Familien. Deren Vermögen und Einfluss hat durch die Privatisierung von Staatseigentum (Banken, Versicherungen, Unternehmen, Ländereien) seit den 80er Jahren erheblich zugenommen. Gleichzeitig wurde das bestehende Machtmonopol durch Verfassungs- und Gesetzesänderungen umso stärker gegen den Rest der Gesellschaft abgeschottet. Unternehmer, die nicht zu dem exklusiven Kreis jener Familien gehören, finden nicht oder nur schwer Zugang zu Bankkrediten, Staatsaufträgen, Fördermitteln internationaler Institutionen. Die entstandenen wirtschaftlichen Monopole benötigen vergleichsweise wenige Arbeitskräfte und tragen so auch nicht zum Aufbau einer breiteren Arbeiterklasse bei. Die qualifizierten Fachkräfte, die sie benötigen, holen sie sich von den privaten Schulen und Hochschulen; die staatlichen Bildungseinrichtungen wie auch die Gesundheitseinrichtungen sind von schlechter Qualität. Die herrschenden Familienclans sparen sich die Steuermittel bzw. verteilen sie unter sich. Die Sozialausgaben sind zwar bis 2006 um ein Prozent auf 19,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestiegen. Das liegt aber lediglich am starken Anwachsen der Energiesubventionen für Gas, Benzin, Elektrizität, die mehr als ein Drittel des Sozialetats ausmachen. Von den Energiesubventionen profitieren vor allem die reicheren Haushalte und zu 80 Prozent der Unternehmenssektor. Die Subventionierung der Nahrungsmittel ist – trotz erheblicher Preissteigerungen – gleich geblieben; daher die immer wieder aufflammenden Brotunruhen. Soziale Reformen standen nicht auf der Tagesordnung der Regierung.

Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen in Ägypten wurde davon ausgegangen, dass entweder der regierende Staatspräsident Husni Mubarak oder dessen Sohn Gamal kandidieren würden. Gamal galt als der »Modernisierer«, weil er sich politisch eher auf die großen Unternehmer stützte, während sein Vater, der aus der Militärführung kommt, dort eher seine Hausmacht hatte.

Die letzte Verfassungsänderung von 2007 hatte es allen Interessierten in der ägyptischen Gesellschaft klar gemacht, dass es weiter bei der Herrschaft der NDP (Nationaldemokratische Partei) und ihrer »gelenkten Demokratie« bleiben würde. Echte Oppositionsparteien, wie die Muslimbruderschaft, haben nach wie vor keine Chancen, einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen aufzustellen. Auch im Hinblick auf die Wahlen zum Parlament wurde die Lage für die Bruderschaft erheblich verschlechtert. Das in den letzten Jahrzehnten neu entstandene kleine und mittlere Bürgertum, die Arbeiter in Industrie und Landwirtschaft, die Beschäftigten in den sozialen und Bildungsinstitutionen , die Erwerbslosen – ihnen allen musste also klar sein, dass die Präsidentschaftswahlen für sie keine Änderungen zum Besseren bringen würden.

Als am besten organisierte politische Opposition in Ägypten gilt die Muslimbruderschaft, die insbesondere auch Klein- und Mittelunternehmer und Vertreter akademischer Berufe vereint und die nach eigenen Worten jederzeit in der Lage wäre, eine funktionierende Regierung zu stellen. Sie kann durchaus als einflussreichste Vertreterin der von der politischen Herrschaft ausgeschlossenen Teile der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen unter den gegebenen Verhältnissen angesehen werden. Die aktuelle Protestwelle wurde jedoch nicht von den Muslimbrüdern, sondern von den Organisatoren der außerparlamentarischen Bewegung Kifaya (»Genug!«) in Gang gesetzt, die so unterschiedliche Kräfte vereint wie Nasseristen, Kommunisten, Liberale und Kräfte des sogenannten »moderaten politischen Islam«; Muslimbrüder sind mit dabei, jedoch nicht als Repräsentanten ihrer eigenen Organisation. Zentrale Forderungen von Kifaya sind: Aufhebung des nationalen Notstands, Freilassung der politischen Gefangenen, Unabhängigkeit der Justiz, der Gewerkschaften und Berufsverbände.

In der Außenpolitik steht Kifaya kritisch zur US-Regierung und zu Israel. Mittlerweile hat sich die Muslimbruderschaft auch als Organisation zur Revolte bekannt.
Es sind die kleinbäuerlichen und proletarischen Schichten, die den Aufstand der »Straße« tragen, dort aber nicht als eigenständige politische Kraft auftreten. Wenn wir die Muslimbruderschaft als politische Vertreterin des von der Macht ausgeschlossenen Bürgertums und Kleinbürgertums ansehen, so war sie allein nicht in der Lage, die Regierung herauszufordern. Jetzt spielt ihr »die Straße« in die Hand und sie ist dabei, die Gelegenheit zu nutzen, d. h. sich für eine Regierungsübernahme – in welcher Konstellation, das wird man sehen – bereit zu stellen. Es ist klar, dass sie aus eigenem Interesse weitreichende Verfassungsänderungen, die Aufhebung des Ausnahmezustandes, die Änderung des Wahlgesetzes und vieles andere, durchsetzen muss, wenn sie an der politischen Macht partizipieren will.

Die ägyptische (wie auch die tunesische) Armee ist eine Wehrpflichtigenarmee. Das schließt nicht aus, dass sie gegen die Massenbewegung eingesetzt wird. Allerdings ist dies bislang noch nicht – oder doch nur ausnahmsweise im Einzelfall – geschehen. In Tunesien hatte sich Staatspräsident Ben Ali vor allem auf die Polizei gestützt, die nun offenbar auseinander gefallen ist; das Militär verhält sich derzeit noch abwartend. Husni Mubarak war nach dem Tod seines Vorgängers Sadat der Kandidat des Militärs. Dieses scheint allerdings davon auszugehen, dass sich der alte Zustand nicht länger aufrecht erhalten lässt. Es steht außer Frage, dass in beiden Ländern die Streitkräfte technisch gesehen in der Lage wären, die Bewegungen nieder zu schlagen, aber wie es aussieht, haben sie derzeit weder personell noch sachlich eine Perspektive, wie es danach weiter gehen sollte. In Ägypten stehen mit Mohammed al-Baradei, dem ehemaligen Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde, und Amr Moussa, dem Generalsekretär der Arabischen Liga und ehemaligen ägyptischen Außenminister, Kandidaten für das Präsidentenamt bereit, die den USA und der EU genehm sein könnten. Aber es ist gegenwärtig weder klar, für welches Programm sie im Einzelnen stehen, noch, mit wem sie es umsetzen wollen. Für Ägypten jedenfalls gilt, dass es keine wirkliche wirtschaftliche und politische Reform ohne die Einbeziehung der Muslimbruderschaft geben wird, die politisch vor allem den bislang ausgegrenzten bürgerlichen und kleinbürgerlichen Teil der ägyptischen Gesellschaft repräsentiert.

Für die Arbeiterklasse wird es auch darum gehen, die staatliche Einheitsgewerkschaft durch eigene, von ihr selbst kontrollierte, gewerkschaftliche und politische Organisationen zu ersetzen, und soziale Forderungen nach qualifizierten Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, besseren Sozialleistungen, nach Presse- und Versammlungsfreiheit und höheren Löhnen durchzusetzen. Erste Schritte in dieser Richtung ist sie bereits in den zahlreichen Streikbewegungen der vergangenen drei Jahre gegangen. 6. Feb. 2011

1) Interessierten Leserinnen und Lesern empfehlen wir das Buch von Hans Henle, Der neue Nahe Osten, Suhrkamp Verlag 1972, auch wenn es mittlerweile in die Jahre gekommen ist. Sehr informativ auch die Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, von Thomas Demmelhuber und Stephan Roll, Herrschaftssicherung in Ägypten, Zur Rolle von Reformen und Wirtschaftsoligarchen, Berlin Juli 2007, auf deren Angaben sich Teile dieses Beitrags stützen.

2) Die Staaten Nordafrikas sind fast allesamt aus dem Zerfall der osmanischen Herrschaft vor dem I. Weltkrieg hervorgegangen. Ägypten hatte allerdings bereits während des Sultanats eine gewisse Eigenstaatlichkeit. Tunesien und Algerien kamen unter französische Herrschaft, Ägypten war für England von besonderer Bedeutung, weil der Weg nach Indien über den Suez-Kanal führt.