aus Arpo Nummer 4, 2008

WELTWEITE  WIRTSCHAFTSKRISE

Erste Lehren aus der Finanzkrise

Die Auswirkungen der Finanzkrise, die mit dem Platzen der Immobilienblase in den USA Ende 2007 begann, sind auch heute noch nicht in ihrem ganzen Ausmaß erkennbar. Was die ökonomischen Mechanismen dieser Krise angeht, so verweisen wir unsere Leser auf die Kurzdarstellung von Günther Sandleben, den isw-report, sowie auf die Broschüre von Lucas Zeise. Alle, die sich grundsätzlicher mit den Regeln der kapitalistischen Geldzirkulation beschäftigen möchten, finden in »Das Finanzkapital« von Rudolf Hilferding aus dem Jahr 1909 eine immer noch lehrreiche Einführung.

Uns interessieren hier in erster Linie die Ursachen und Folgen der Krise, die mittlerweile auch auf die Realwirtschaft übergegriffen hat, soweit sie sich heute bereits absehen lassen.

Finanzkrise und Arbeitsplatzabbau

Mit dem Eintritt der Staaten des ehemaligen sozialistischen Lagers in den kapitalistischen Weltmarkt ist dessen Bevölkerung auf einen Schlag um mehr als ein Drittel gewachsen. Die Eingliederung der Länder hinter dem »Eisernen Vorhang« brachte dort nicht nur bürgerliche Klassen hervor, sondern schuf den entwickelten kapitalistischen Industriestaaten riesige neue Märkte und Profitmöglichkeiten. Das private Finanzvermögen der Reichen und Superreichen, die nur 1,5 Promille der Weltbevölkerung ausmachen, wuchs in der Spanne von 1997 bis 2007 von 19.100 Milliarden auf 40.700 Milliarden US-Dollar. Während die Profite der Unternehmen in den letzten zwei Jahrzehnten gewaltig anschwollen 4), stagnierten die Reallöhne der Arbeitnehmer in den Industriezentren. Gleichzeitig wurde die Produktivität durch Automation und Rationalisierung in Industrie und Verwaltungen gesteigert. Nur ein Teil der so entstandenen Profitmasse konnte gewinnbringend in die Warenproduktion investiert werden. Der andere Teil des Geldkapitals floss in mehr oder weniger spekulative Finanzprodukte wie zum Beispiel Staatsanleihen, Fondsanteile, Zertifikate, Optionsscheine. In dem Maße, in dem das anlagesuchende Geldkapital wuchs, erweiterte die Finanzindustrie ihren Markt, indem sie neue Anlagemöglichkeiten, neue Finanzprodukte für ihre reiche Kundschaft entwickelte. Es entstanden spekulative Kreditblasen. Das Platzen solcher Blasen am Immobilienmarkt erst der USA, dann in Großbritannien und zuletzt in Spanien deckte die Dimensionen der spekulativen Überdehnung auf und führte weltweit zu Kettenreaktionen auf den Kreditmärkten. Die Krise vernichtet jetzt in großem Stil Geldkapital; in erster Linie trifft es die Reichen und Superreichen; manche von ihnen, die bislang als Milliardäre galten, sind nun bloß noch Multimillionäre,
z.B. die Hauptaktionärin von Arcandor (Karstadt-Quelle), Schickedanz. Aber sie trifft auf dem Weg über Investmentgesellschaften und Pensionsfonds – vor allem in den Staaten, in denen die Alterssicherung über den Kapitalmarkt erfolgt – auch die Beschäftigen und die Rentenempfänger. Und sie trifft mit Wucht auch viele besser verdienende Arbeitnehmer und Sparer, die auf Empfehlung ihrer Banken und Sparkassen riskante Finanzprodukte gekauft hatten, die sie häufig genug überhaupt nicht verstanden. Mit dem Übergreifen auf die Realwirtschaft, in erster Linie auf die Bauwirtschaft und die Konsumgüterindustrie, wie z.B. den Automobilbau, kommt die Krise aber auch bei den Beschäftigen in Deutschland und den übrigen EU-Staaten an. Auch hier sind die Folgen noch nicht absehbar – nach dem massenhaften Personalabbau der letzten Jahrzehnte infolge von Rationalisierungsmaßnahmen stehen nun Tausende von Entlassungen bei den Finanzinstituten und in der Automobilbranche an. Andere Wirtschaftszweige werden folgen, soviel ist klar. Unklar bleiben vorerst Ausmaß und Dauer der Krise.

Die Retter des Kapitalismus in Aktion

Es gibt drei Sorten von Opfern der Finanzkrise: Die einen sind diejenigen, die die Krise durch den spekulativen Einsatz von Geldkapital und riskante Finanzinstrumente letztlich verursacht haben, also die Finanzinstitute selbst mitsamt ihren Zweckgesellschaften (Conduits). Die anderen sind eine große Zahl von Reichen und Superreichen, unter denen sich auch die Eigentümer der Finanzindustrie befinden. Diese beiden Gruppen machen zahlenmäßig nicht mehr als anderthalb Promille der Weltbevölkerung aus. Die dritte Gruppe umfasst, grob gesprochen, den Rest der Menschheit.

Es entspricht der inneren Logik der kapitalistischen Herrschaft, dass der kapitalistische Staat zur Rettung der ersten beiden Gruppen herbei eilt. Die US-Regierung machte den Anfang mit einem

Am 4. Dezember 1857 schrieb Marx zur damaligen europäischen Finanzkrise: »Mit anderen Worten, das Vermögen der gesamten Gesellschaft, welche die Regierung vertritt, hätte die Verluste der privaten Kapitalisten zu vergüten. Diese Art Kommunismus, wo die Gegenseitigkeit völlig einseitig ist, erscheint den europäischen Kapitalisten ziemlich anziehend.“ (MEW 12, S. 340)
Und am 8. Dezember bemerkte er dazu noch einmal gegenüber Engels: »Daß die Kapitalisten, die so sehr gegen das ‘droit au travail’ (Recht auf Arbeit) schrien, nun überall von den Regierungen ‘öffentliche Unterstützung’ verlangen (…), also das ‘droit au profit’ (Recht auf Profit) auf allgemeine Unkosten geltend machen, ist schön«.   (MEW 29, S. 223).« ■

700-Milliarden-Dollar-Programm, durch welches sich die Banken günstig refinanzieren können und wo sie durch Verkauf von faulen Hypothekar- und anderen Krediten ihre Bilanzen sanieren können. Gleichzeitig werden die überlebenden Banken ermutigt, sich die Dahingeschiedenen einzuverleiben, was zur weiteren Konzentration auf dem Bankensektor führt. Die Absicht, die seitens der Regierung dahinter steckt, ist, die Krise, soweit sie Kreditkrise ist, auf diese Weise zu bewältigen. Mit den Krediten der US-Notenbank Fed an die klammen Banken soll verhindert werden, dass die Warenzirkulation zusammenbricht. Beide Maßnahmen machen unter kapitalistischem Vorzeichen Sinn. Deshalb sind in kürzester Frist die Regierungen aller anderen Industriestaaten aber auch die der Schwellenländer dem Beispiel der Bush-Regierung gefolgt, die dabei auch von der Demokratischen Partei unterstützt wurde. Ob diese Geldspritzen die Krise abmildern, ob sie verhindern, dass die Weltwirtschaft in eine tiefe und lang anhaltende Depression abgleitet, das ist noch nicht absehbar.

Die dritte Gruppe der Opfer, die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft, die Arbeitnehmer und ihre Familien schließlich, soll die Rettungsaktionen bezahlen. Auch dies entspricht der inneren Logik der kapitalistischen Gesellschaft. Allein die Sorge vor dem Ausgang der kommenden Präsidentschaftswahlen in den USA führte dazu, dass der oben skizzierte Rettungsplan geringfügig um ein Programm mit Kredithilfen für insolvente Hauseigentümer aufgestockt wurde.

Das Rezept zur Rettung der Finanzinstitute in Deutschland ist im Prinzip das Gleiche wie in den USA, mit dem Unterschied, dass hier eine große Koalition unter Einschluss der Sozialdemokratie handelt. 500 Milliarden Euro sollen den Banken aus der Finanzklemme helfen, ihre faulen Kredite sollen sie beim Bund parken dürfen. Eine Rechtsverordnung räumt der Regierung bzw. ihrem beauftragten Organ bei der Bundesbank Einflussnahme auf die Politik der Geldinstitute ein, die Hilfe annehmen – aber die Formulierungen der Verordnung sind rechtlich so unbestimmt gefasst, lassen dem Finanzministerium unter Minister Steinbrück (SPD) beliebigen Spielraum für Ermessensentscheidungen, so dass unter Ausschluss der Öffentlichkeit der Schmusekurs mit dem Finanzkapital fortgesetzt werden kann.

Tatsächlich bestätigt die SPD ihre unternehmerfreundliche Linie für die Agenda 2010 mit der Neubesetzung der Spitzenpositionen nach dem Sturz von Kurt Beck: Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat, Franz Müntefering als Parteivorsitzender und Finanzminister Steinbrück verkörpern das Regierungsprogramm von weiland Bundeskanzler Schröder in Reinkultur. Einige kleine Zugeständnisse an die Rentenempfänger für das kommende Jahr der Bundestagswahl, Zusagen für eine Ausweitung der Mindestlöhne, allerdings ohne Festlegung auf eine bestimmte Höhe, dafür aber Hartbleiben bei der Rente mit 67 – darin drückt sich das »soziale Engagement« der Krisenmanager aus. Bei dieser politischen Grundlinie ist es klar, dass die Zusammenarbeit mit der CDU – von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen – störungsfrei verläuft. Es scheint, dass die SPD eine Abstrafung durch ihre (Nicht-)Wähler solange nicht fürchtet, wie eine große Koalition mit der CDU/CSU noch im Bereich des Möglichen ist. Auf Bundesebene ist es der Linkspartei erkennbar nicht gelungen, erfolgreich Druck auf die sozialdemokratische Führungsebene auszuüben. Die so genannten Parteilinken um Andrea Nahles fügen sich anstandslos der Parteidisziplin unter der neu-alten Parteispitze.

Nach der Krise ist vor der Krise

Das isw weist darauf hin, dass sich in den vergangenen zehn Jahren allein drei weltweite Finanz- und Spekulationsblasen aufgebläht hatten und am Ende platzten: »die Emerging-Market-Bubble, die New-Economy-Blase, die Subprime-Immobilien-Spekulation. Eine vierte Blase, die Öl-Rohstoff-Nahrungsmittel-Bubble wird seit Monaten kräftig aufgepustet«.

Die Ursachen für die Finanzkrisen im Kapitalismus sind die Gleichen wie die Ursachen für die weltweiten Krisen der Realwirtschaft: Sie lassen sich zurückführen auf das Auseinanderklaffen von gesellschaftlicher Produktion auf der einen Seite und gesellschaftlicher Konsumtion auf der anderen. Der Reichtum, ob in Finanzanlagen oder in Industrieprodukten, der sich als Profi t in den Händen einer kleinen Minderheit von Kapitaleignern ansammelt, lähmt an einem bestimmten Punkt den Fortgang der Wirtschaft, führt zu Produktionsstillstand und Finanzkrisen, wodurch überschüssiges Kapital vernichtet und Konkurrenten ausgeschaltet werden. Nach jeder Krise wird das Rad erneut und mit größerer Übersetzung gedreht: Noch größere Konzerne mit noch größerer Produktivität steigern den Mehrwert und die Profite – während die Ausbeutung der Erwerbstätigen anwächst, sinkt deren Fähigkeit, den Warenreichtum zu kaufen. Die Folge davon sind periodische Wirtschaftskrisen, wie sie den Kapitalismus seit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert stets begleiten. So wird auch diese Krise nur Vorläuferin der nächsten sein.

Das große Problem unserer Zeit ist, dass die Beschäftigten die Vertretung ihrer ureigensten politischen Interessen an bürgerliche und linksbürgerliche Parteien delegieren, die selbstverständlich die Lasten zur Bewältigung dieser Krisen auf die Schultern der Erwerbstätigen legen. Aus wahltaktischen Gründen werden gelegentlich geringfügige Zugeständnisse an bestimmte Wählergruppen gemacht, die aber am Grundsachverhalt nichts ändern und bloße Sozial-Kosmetik sind. Dadurch ist es schier unmöglich, die propagandistischen Möglichkeiten auszuschöpfen, die in einer objektiven Darstellung der Ursachen und Folgen der aktuellen Krise liegen. Das soll uns nicht davon abhalten, deren Hintergründe aufzuklären und die kapitalistische Produktionsweise selbst als die Hauptursache zu benennen. Aber zu einer gesellschaftlichen Kraft wird die sozialistische Idee erst wieder werden, wenn die Massen selbst nach ihr streben.

1. November 2008 ■