■ VOR DEN TARIFRUNDEN 2008
Erwachen aus der Verzichtshaltung?
Die bevorstehenden Tarifrunden 2008 sind mit einem deutlichen Signal eingeleitet worden. Die Gewerkschaft Deutscher Lokführer hat eine Erhöhung der Entgelte und eine Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt und damit die Verschlechterungen der vergangenen Jahre teilweise rückgängig gemacht. Das Ergebnis steht der Zielsetzung von Regierung und Unternehmern entgegen – aber vor den anstehenden Landtagswahlen hat der Stimmungswandel in der lohnabhängigen Bevölkerung Wirkung gezeigt.
Unter den Lohnabhängigen ist angesichts des gegenwärtigen Konjunkturaufschwungs der Unwille darüber gewachsen, wie sie abgehängt werden. Das Politiker-Gerede »Der Aufschwung kommt bei den Menschen an« steht in einem krassen Missverhältnis zu deren Erfahrungen. Spürbar gestiegenen Lebenshaltungskosten und dem eigenen Verzicht, um den Arbeitsplatz zu erhalten, stehen Riesengewinne der Konzerne und eine Explosion der Managergehälter gegenüber. Was sich an Unmut über den erfahrenen Sozialabbau angestaut hat, brach sich Bahn als Sympathie für die, die nicht mehr verzichten wollen und die Auseinandersetzung aufnahmen. Der Kampf der GDL fand deshalb die Zustimmung einer großen Mehrheit in der Bevölkerung.
Weckten die Forderungen der GDL die Sympathie der Lohabhängigen, so warnten die Führungen anderer Gewerkschaften und diskreditierten die GDL. Sich dem Erhalt der kapitalistischen Wirtschaftsordnung politisch verpflichtet fühlend und sozialpartnerschaftlich mit den Unternehmern verbunden, predigen sie der arbeitenden Bevölkerung Verzicht, um die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen zu erhalten und den »Standort Deutschland« damit zu sichern. Das kämpferische Auftreten der GDL passt nicht in die Politik der Gewerkschaftsführungen, die Kämpfe außerhalb ihrer Kontrolle nicht dulden wollen.
Angesichts der Unzufriedenheit sahen sich die Gewerkschaftsführungen unter dem Druck ihrer Mitglieder gezwungen, deutlich höhere Lohnforderungen als in den vergangenen Jahren aufzustellen. Als erster musste sich Detlef Wetzel, in der IGM verantwortlich für die Stahlindustrie, der Tarifkommission beugen und eine Forderung von acht Prozent zulassen. Bei den großen Energiekonzernen fordern ver.di, IG Metall und IGBCE ebenfalls acht Prozent. Das ›Handelsblatt‹ sieht bei einer solchen Forderung von ver.di und dbb im Öffentlichen Dienst eine »echte Kampfansage« an den Staat, da der Personalkostenanteil im Öffentlichen Dienst doch sinken müsse. Regionale ver.di-Gliederungen erhoben zum Teil noch höhere Forderungen. So sollen beispielsweise die Löhne der Beschäftigten im Nahverkehr der Hauptstadt – bei der BVG und deren ausgegliederter Tochter ›Berlin Transport‹ – um acht bzw. zwölf Prozent erhöht werden. Die Verhandlungen darüber begannen am 17. Januar. In der Chemiebranche werden bis zu sieben Prozent, im Kfz-Handwerk fünf Prozent gefordert. Die Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie beginnt erst in der zweiten Jahreshälfte. Dass aber die Durchsetzung von höheren Lohnforderungen etwas ganz anderes ist, als deren Aufstellung, wird sich bald herausstellen (siehe Artikel: 8-Prozent-Forderung im Öffentlichen Dienst: Schwierige Tarifrunde steht bevor).
Nicht nur die Gewerkschaftsvorstände, auch die Regierungsparteien stehen unter dem Eindruck des Stimmungswechsels in der Bevölkerung. Die SPD – unter Schröders Führung noch auf Kurs, beste Rahmenbedingungen für die internationale Konkurrenzfähigkeit und damit grandiose Gewinnsteigerungen der Unternehmen zu schaffen – kann die bisherige Linie nicht mehr ungebrochen fortsetzen. Mit ihrer Offensive für eine Einführung des Mindestlohnes versucht sie den Vertrauensverlust unter ihren Anhängern und Wählern entgegenzuwirken. In einigen Branchen setzen sich auch Unternehmen für einen Mindestlohn ein, um der zunehmenden Billigkonkurrenz Herr zu werden. Im Postbereich konnten sich auch CDU und CSU dem deshalb nicht mehr widersetzen. Der gesetzliche Mindestlohn bei der Briefzustellung und das Moralisieren gegen hohe Managergehälter rufen wiederum die Unternehmerverbände auf den Plan.
Hatte Beck noch vor wenigen Wochen den Bahnvorstand aufgefordert, gegenüber der GDL hart zu bleiben, so versuchen SPD-Spitzenpolitiker jetzt kurz vor den Landstagswahlen, sich an die Spitze der Unzufriedenheit zu setzen und ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften wieder aufzubessern. Deren Anliegen und Lohnforderungen werden nicht mehr abgelehnt, sondern verbal unterstützt, siehe das gemeinsame Auftreten im hessischen Wahlkampf mit dem IGM-Vorsitzenden Huber. Verkehrsminister Tiefensee (SPD) flankierte diese Wahlkampflinie durch sein Eingreifen in die stockenden Tarifverhandlungen bei der Bahn – nicht, wie von Mehdorn in einem offenen Brief gefordert, gegen die GDL. Angesichts der ungebrochenen Bereitschaft der GDL-Mitglieder für eine Fortsetzung des Arbeitskampfes, wurde der Bahnvorstand vom Verkehrsminister zu Zugeständnissen gedrängt. Ein Lokführerstreik parallel zu den Tarifrunden und zu den Landtagswahlen wäre nicht im Sinne für die SPD und die Gewerkschaftsvorstände gewesen.
Die Warnstreiks bei den Berliner Nahverkehrsbetrieben und in der Stahlindustrie zeigen: In etlichen Bereichen und Belegschaften ist die Erwartung an die diesjährige Tarifrunde ebenso gestiegen, wie die Bereitschaft aktiv zu werden. Angesichts des massiven Unmuts unter den Beschäftigten sah sich ver.di gezwungen einen für den Sonnabend angekündigten Warnstreik bei der BVG völlig überraschend auf Freitag vorzuziehen und zeitlich auszudehnen – um spontanen und unkontrollierten Aktionen vorzubeugen, so die Argumentation des verantwortlichen ver.di-Sekretärs. Auch die Stahlarbeiter in Salzgitter wollten nicht auf den von der IG Metall vorgesehenen Warnstreiktermin warten.
Während die SPD sich bemüht, auf der Welle der Unzufriedenheit zu schwimmen und damit den Trend zur Linkspartei zu stoppen, versuchte der hessische Ministerpräsident Koch mit Unterstützung des CDU-Bundesvorstandes wieder einmal, die Stimmung gegen Ausländer zu schüren und in Wählerstimmen umzumünzen. Die Absicht der CDU ist bei den Wahlen in Hessen nicht aufgegangen. Zu offensichtlich war, dass damit von anderen Problemen und der Unzufriedenheit mit den sozialen Verhältnissen abgelenkt werden sollte.
■ 8-PROZENT-FORDERUNG IM ÖFFENTLICHEN DIENST
Schwierige Tarifrunde steht bevor
Die Gewerkschaft ver.di steht in der ersten wirklichen Tarifrunde nach der Neuordnung des Tarifrechts im Öffentlichen Dienst. Sie wird in vielerlei Hinsicht schwierig werden. Die Haltung der öffentlichen Arbeitgeber ist erheblich härter geworden, seit deren Haushalte durch unternehmerfreundliche Steuersenkungsmaßnahmen unter massiven Einnahmeverlusten leiden und gerade untere Ebenen (Kreise, Gemeinden) durch Kosten der Massenerwerbslosigkeit, Sozialhilfebedürftigkeit, Strukturreformen in den Sozialsystemen etc. immer stärker belastet werden. Durch die Tarifrechtsreform der Jahre 2003 – 2006 wurden die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst und den angeglichenen Bereichen deutlich schlechter gestellt und erhielten seit 2004 keine Lohnerhöhung mehr. Zwar läuft derzeit die Konjunktur besser als in den vergangenen Jahren, dennoch werden Finanzminister und Kämmerer ihre Taschen fest verschlossen halten, wenn ver.di nicht an anderen Stellen zu Konzessionen bereit ist. Erste Forderungskataloge von Landesbezirken der Gewerkschaft orientierten sich an der jüngsten Diätenerhöhung im Bundestag, die bei 9,4 Prozent lag, und verwiesen auch auf Abschlüsse in der Privatwirtschaft und die Aktionen der Lokführer. Doch nicht nur das übliche Tarifritual lässt befürchten, dass am Ende hiervon nicht viel übrig bleibt. Auch die Kampfbedingungen, um dies durchzusetzen, haben sich gegenüber früheren Zeiten erheblich verschlechtert.
Die Tarifeinheit von Bund, Ländern und Kommunen wurde aufgelöst, ganze Bereiche wie Nahverkehr und Versorgung mit eigenen Spartentarifverträgen geregelt, einzelne Betriebe wie Post, Bahn, Telekom, Stadtwerke und Krankenhäuser durch Privatisierung ausgegliedert. Die Tarifrunde 2008 gilt nur für die Betriebe und Verwaltungen des Bundes und der Kommunen, soweit sie unter den Geltungsbereich des neuen TVöD fallen. Auf frühere kampfstarke Bereiche wie Entsorgung und Nahverkehr muss vielerorts verzichtet werden. Die Länder sind generell ausgenommen, weil sie einen eigenen Tarifvertrag (TV-L) mit ver.di haben, der zwar inhaltlich an den TVöD angelehnt ist, aber eine andere Laufzeit hat. Eine Flut von Sonderregelungen und Öffnungsklauseln muss mittlerweile beachtet werden: So kostete z. B. der Streit um die Arbeitszeit in den Jahren 2005/6 die Gewerkschaft viel Kraft, schon um in den eigenen Reihen eine gemeinsame Linie herzustellen.
Auch im Öffentlichen Dienst geht es darum, gegen die immer stärkere Auspressung, Flexibilisierung und Entrechtung der Lohnarbeit wie auch die Schwächung und Disziplinierung der zuständigen Gewerkschaft Widerstand zu organisieren. Wie werden die Beschäftigten und ver.di auf die nach wie vor harte Haltung der öffentlichen Arbeitgeber reagieren? Ein Rückblick auf den ver.di-Bundeskongress im Oktober, in dem auch die Tarifrechtsreform und die kommende Tarifrunde im Öffentlichen Dienst zur Sprache kamen, zeigt, dass die Gewerkschaft noch nicht in der Lage ist, die richtigen Konsequenzen zu ziehen.
Tarifpolitik im Gewerkschaftstag
Einmal mehr begrub Frank Bsirske die Probleme der Gewerkschaft ver.di souverän unter seiner vielgerühmten Rhetorik. Auf dem Bundeskongress (= Gewerkschaftstag) in der ersten Oktoberwoche des Jahres 2007 beschrieb er die Tarifpolitik der Gewerkschaft, als sei sie in den letzten vier Jahren geradezu eine Erfolgsgeschichte gewesen, in der ver.di »von Sieg zu Sieg« geeilt sei, wie ein Teilnehmer in der später anschließenden Aussprache kritisierte. Das Gegenteil ist der Fall: Ob man das Lohnniveau, die Tarifbindung, die Sozialpolitik (Agenda 2010, Hartz-Gesetze), die Mitgliederentwicklung in der Organisation selbst betrachtet – überall befindet sich ver.di auf einer Bahn, die manche als »gewerkschaftlich geordneten Rückzug«, andere schon als »freien Fall« bezeichnen.
Die Jahre 2003 bis 2007 seien, so Bsirske, »von zum Teil außerordentlich harten Abwehrkämpfen« geprägt gewesen. Es habe kaum einen Monat gegeben, in dem ver.di nicht in einem Arbeitskampf gestanden habe. Im Finanzbericht, der dem Kongress von Gerd Herzberg vorgetragen wurde, schlägt sich dies so nieder: Die Zahl der Streiktage steigerte sich von 58.000 im Jahre 2004 über 172.000 in 2005 auf 1,2 Mio. in 2006 und beträgt für 2007 bis Ende September schon 630.000 Tage. Die Kosten dafür beliefen sich auf 2,5 Mio. Euro in 2004, 8 Mio. Euro in 2005, 54,9 Mio. Euro in 2006 sowie 33,2 Mio. Euro für das – zum Zeitpunkt des Gewerkschaftstages – noch nicht abgelaufene Jahr 2007. Schwerpunkte der Streiks waren in 2006 der Öffentliche Dienst und in 2007 die Telekom.
Die Bewertung der Ergebnisse nahm der Vorsitzende selbst vor. Demnach handele es sich um »Konflikte, in denen wir zum Teil auch tarifliche Verschlechterungen hinnehmen müssten, ja, aber in denen wir uns doch immer behauptet und Schlimmeres verhindert haben«. Aussagen dieser Qualität gehören bei führenden GewerkschafterInnen schlicht zur Normalität, müssen jedoch angesichts der schweren Niederlagen gerade in den hervorgehobenen Bereichen Öffentlicher Dienst und Telekom sehr verwundern. Die Weigerung, Realitäten wahrzunehmen und vorbehaltlos aufzuarbeiten, ist ungebrochen. Bsirske versteht es offensichtlich, die angebliche Alternativlosigkeit von »Kompromissen « mit der Kompliziertheit objektiver Problemlagen, der harten Haltung öffentlicher und privater »Arbeitgeber« usw. zu verknüpfen und offensichtliche Niederlagen als das Halten von Dämmen zu interpretieren. Zwischendurch lobt er immer wieder Einsatz und Stehvermögen der streikenden KollegInnen in den verschiedenen Bereichen und versucht ihnen so das Gefühl zu vermitteln, das wahre Subjekt der Kämpfe zu sein, obwohl sie doch so häufig die Betrogenen waren. Diese populäre Mischung kam im Saale bei den meisten Delegierten offenbar an, jedenfalls den anschließenden Wortmeldungen zufolge.
Eine Minderheit, die widersprach, gab es jedoch auch. Ein Kollege führte u. a. aus: »Aber der Aufschwung, dieser sogenannte Aufschwung landet in keiner Weise bei den abhängig Beschäftigten, bei den Rentnerinnen und Rentnern und bei den Erwerbslosen. Das zeigt ganz deutlich, dass die Arbeitgeber und die mit ihnen verbündeten verschiedensten Regierungen, ob sie nun Schröder-Fischer hießen oder ob sie Merkel-Müntefering heißen, rücksichtslos vorgehen, rücksichtslos gegen Belegschaften, rücksichtslos gegen die Rentnerinnen und Rentner und die Erwerbslosen: mit Lohnkürzungen, mit Arbeitszeitverlängerungen, Sozialabbau, Einschränkungen der Mitbestimmung und vieles andere mehr. Ich denke, auch wir müssen eine gewisse Rücksichtslosigkeit zeigen.«
Abschlüsse in der Druck- und in der papierverarbeitenden Industrie sehen auf dem Papier erst einmal gut aus, weil sie unter schwierigen Bedingungen (Rationalisierung, Personalabbau, Tarifflucht der Betriebe), mit guter Mobilisierung und nach langen Verhandlungen erreicht wurden. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass z. B. die Erhaltung der Arbeitszeit im Flächentarifvertrag in der Umsetzung durch betriebliche Öffnungsklauseln ausgehebelt wird. Den Abschluss bei Telekom bezeichnete Bsirske als »Kompromiss«, der »bestehen« könne, obwohl der Konzern seine Forderungen weitgehend durchsetzte (Arpo Nr. 3/2007, Leitartikel). Seine Behauptung, ver.di habe diesen Streik wegen seiner Bedeutung »zu einer Sache der ganzen Organisation« gemacht, hat mit der Realität nicht viel zu tun; die betroffenen Betriebe wurden vielmehr weitgehend allein gelassen. Im Einzelhandel steht ver.di derzeit in schweren Auseinandersetzungen, in denen die Unternehmen die Zuschläge für Spät- und Feiertagsarbeit fast völlig streichen wollen, so dass ein Tarifabschluss real eine Lohnkürzung bedeutet. Dies sind nur einige der Beispiele, die angesprochen wurden.
Insgesamt ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Gewerkschaft in einem Sammelsurium von Branchen tätig ist, in denen sie mit harten Bedingungen zu kämpfen hat. Das Dienstleistungsgewerbe wird stärker und unmittelbarer als andere durch Kaufkraftverlust betroffen, hervorgerufen durch Binnenmarktschwäche, Massenerwerbslosigkeit, Strukturkrisen (eben mittelbar auch die anderer Branchen) und sinkende Steuereinnahmen. Im Geschäftsbericht unerwähnt blieb freilich, dass ver.di hieran einen Eigenanteil hat, der besonders deutlich gerade im Öffentlichen Dienst zutage tritt, wo die Gewerkschaft im vorauseilenden Gehorsam im »Reformprozess« Positionen preisgegeben hat, um die sie jetzt wieder kämpfen muss. Die Zahl derjenigen nimmt zu, die jetzt meinen, dass der alte BAT zwar überholungsbedürftig, aber doch besser war als der jetzige TVöD, für den es nicht einmal einen Eingruppierungskatalog gibt, weil die Arbeitgeber (Bund, Kommunen) die Verhandlungen verweigern.
Kein Thema war in Bsirskes Bericht die bereitwillige Kooperation von ver.di bei der Umsetzung der Sozialabbaupolitik von Agenda 2010 und Hartz I – IV. Beklagt wurde der Druck auf die Lebensverhältnisse der lohnabhängigen Menschen, die Disziplinierung durch Hartz IV, Lohndumping durch befristete Arbeitsverhältnisse und Leiharbeit, Verdrängung von regulären Stellen durch 1-Euro-Jobs usw. Stets erschien ver.di dabei als Opfer dieser Machenschaften, nicht als tätiger Mitgestalter auf allen Ebenen, vom Bundesvorstand bis zu den betrieblichen FunktionärInnen vor Ort. Damit war auch von vornherein ausgeschlossen, das praktische Verhalten der Organisation und ihrer Gliederungen von Grund auf zu diskutieren und eine Kursänderung einzuleiten. Die blieb aus. Statt dessen gab es Klagen über die ungünstigen Umstände und reichlich Lob für die KollegInnen, die unter diesen Bedingungen Einsatz zeigen. Mit echter Aufbruchstimmung hat solch künstlich aufgeblasene Rhetorik nicht viel zu tun; sie wird nach dem Ende des Gewerkschaftstages die Konfrontation mit den Realitäten in den Betrieben und in den gewerkschaftlichen Basisgliederungen zu bestehen haben.
Wichtige Themen der Grundsatzrede des Vorsitzenden nach seiner Wiederwahl waren die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, der Erhalt des Flächentarifvertrags, die Beendigung der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, die Gegenwehr gegen weitere Verlängerung der Arbeitszeit, die Rücknahme der Rente mit 67. Das alles müsse gesichert werden durch tarifliche Regelungen – eben das, wofür Gewerkschaften da sind. Bsirske: »Man kann solche Tarifregelungen gut mit Haltegriffen vergleichen: Sie sind da, aber um Halt zu finden, müssen die Beschäftigten selber nach ihnen greifen. Tun sie das und stoßen dabei auf Schwierigkeiten, müssen sie, glaube ich, unterstützt werden.« Dies beschreibt – mehr oder weniger unfreiwillig – die traurige Realität im gewerkschaftlichen Alltag. Die Gewerkschaft ist hier reduziert auf die Tarifregelungsmaschine und auf den Rechtsschutz für den Ernstfall. Damit wird das Risiko der Beschäftigten, ihre Rechte wahrzunehmen, weitgehend individualisiert. Die Gewerkschaft muss aber kollektive Kraft auf allen Ebenen bleiben bzw. sich wieder dazu entwickeln, wenn sie die Interessen der Lohnabhängigen verteidigen und ausbauen will und wenn sie dazu beitragen will, dass der Wind sich dreht und ein anderes politisches Klima entsteht. Sie muss hierbei von der realen Lage ausgehen, dass Kapital und Regierung keine »Partner« sind, die durch Überzeugungsarbeit wieder auf den »richtigen« Weg gebracht werden können, sondern Gegner, denen Zugeständnisse abgetrotzt werden müssen. Es geht letztlich darum, sich über die Natur der kapitalistischen Klassengesellschaft klar zu werden und politische Diskussionen in der Organisation in diese Richtung zu lenken. Schon vor dem Gewerkschaftstag ist aber die programmatische Debatte auf den nächsten Kongress in vier Jahren verschoben worden.
Die Ausgangslage der Tarifrunde
Die Tarifrechtsreform im Öffentlichen Dienst von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen hat zu einem Flickenteppich von Tarifwerken mit schlechteren Bedingungen für die Beschäftigten geführt (vgl. Arpo Nr. 3/2005). So enthält z. B. der TVöD unterschiedliche Arbeitszeitregelungen für den Bund (einheitlich 39 Stunden) und die Kommunen (West: 38,5 Stunden, Ost 40 Stunden). Den kommunalen Arbeitgeberverbänden im Tarifgebiet West wurde eine Öffnungsklausel (§ 6 Abs. 1 Unterabs. b) zugestanden, die Arbeitszeit in ihrem Landesbezirk zu kündigen und mit der Gewerkschaft neu zu verhandeln auf bis zu 40 Stunden. Dies führte zu Streiks in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hamburg sowie zu Neuverhandlungen in mehreren Ländern auf kommunaler Ebene, die fast durchweg Arbeitszeitverlängerungen nach völlig unterschiedlichen Regelungen ergaben. In hessischen Kommunen gilt jetzt die 39-Stunden-Woche allgemein, für bestimmte Berufe, vor allem in kommunalen Krankenhäusern, blieb es bei 38,5 Stunden. Im Bereich der Landesverwaltungen ist es noch komplizierter: Nachdem dort ein eigener Tarifvertrag endlich erkämpft worden war, wurde für jedes Land im Westen (außer Hessen, das aus der Tarifbindung ausgetreten ist) die Arbeitszeit nach einer einheitlichen Formel ausgerechnet, die aber jeweils unterschiedliche Ergebnisse brachte (Höchstzahl: Bayern mit 40 Stunden und sechs Minuten pro Woche).
Massive Verschlechterungen gab es vor allem in der Bezahlung. Im Öffentlichen Dienst ist die Entgelttabelle seit 2004 nicht mehr erhöht worden. Es gab lediglich Einmalzahlungen, die nicht tabellenwirksam sind, und allein für die Länder wurde für das Jahr 2008 eine Lohnerhöhung von 2,9 Prozent vereinbart (damit aber auch festgelegt, trotz derzeit gut laufender Konjunktur). Die gravierendsten Einschnitte gab es in der Einkommensstruktur mit der Zusammenlegung der alten BAT- und Lohntabellen zu einer neuen einheitlichen Tabelle, in der es keine Bewährungsaufstiege und Sozialzuschläge (abhängig von der Kinderzahl) mehr gibt. Dazu kommt eine neue Niedriglohngruppe. Zulagen für bestimmte Arbeitsanforderungen sind nicht mehr vorgesehen, statt dessen soll ein Teil (derzeit 1 Prozent, später bis zu 8 Prozent) der Lohnsumme nach »Leistung« aufgeteilt werden. Weihnachts- und Urlaubsgeld wurden zu einer reduzierten Jahressonderzahlung zusammengelegt.
Dies alles wurde von ver.di nicht nur unter Druck, sondern auch im vorauseilenden Gehorsam, im Vertrauen auf die Kooperationsbereitschaft der Arbeitgeber vereinbart. Dabei fiel die Gewerkschaft schon früh in der Arbeitszeitfrage auf die Nase, und dieser Konflikt besteht derzeit und für die anstehende Tarifrunde mit den Kommunen weiter. Auch der Bund hat sich deren Forderung nach Arbeitszeitverlängerung auf »bayrisches Niveau« angeschlossen. Ein weiteres Spannungsfeld ist die Entgeltordnung. Im Vertrauen auf »faires« Verhalten der öffentlichen Arbeitgeber hat ver.di die Abschaffung der BAT- und Lohngruppen vereinbart mit dem Vorbehalt, dass sie bis zur Erstellung eines neuen Entgeltkatalogs weiter gelten, spätestens aber bis Ende 2007. Bund und Kommunen werden diese und andere, weniger bedeutsame strittige Punkte in die nächsten Tarifverhandlungen als Kompensationsgeschäfte einbringen.
Es ist nicht die hier dargelegte organisatorische Schwäche von ver.di allein, die die Gewerkschaft dazu bewogen hat, bei der Ersetzung des BAT und der Arbeitertarifverträge des Öffentlichen Dienstes durch ein neues Tarifwerk (TVöD/TV-L) solchen Verschlechterungen zuzustimmen. Die Mitgliederstärke und die Finanzkraft allein reichen als Argument nicht aus. Aktuell vergleiche man die Situation bei der Bahn: Transnet ist eine große, aber nachgiebige bzw. korrumpierte Gewerkschaft, die kleine GdL bringt mehr Kampfentschlossenheit auf. Oder Frankreich: Dort schaffen es – bei notorisch niedrigem Organisationsgrad – acht Bahngewerkschaften, in einem gemeinsamen Vorgehen das ganze Land lahmzulegen. Welches Arbeitsgericht würde es dort wagen, den Streik im Fern- und Güterverkehr zu verbieten (Arbeitsgericht Chemnitz, vom Landesarbeitsgericht wieder aufgehoben)? Was DGB-Gewerkschaften wie Transnet und ver.di fehlt, ist ein politischer Wille zur konsequenten Gegenwehr bzw. zur Machtfrage. Unabhängig davon, mit welchem Ergebnis die Auseinandersetzung mit dem rechten Sarkozy-Regime in Frankreich enden wird: Die Gewerkschaften dort gehen offensichtlich davon aus, dass Nachgiebigkeit nichts bringt, sondern die Aggressivität der anderen Seite noch weiter anstachelt.
DGB-Gewerkschaften jedoch unterwerfen sich den Verwertungsinteressen des Kapitals und suchen um fast jeden Preis einen »Ausgleich«. Eine Strategie, die unter längst vergangenen Bedingungen den Lohnabhängigen jahrzehntelang bescheidenen Wohlstand und weitgehende soziale Sicherheit bescherte, versagt unter den heutigen Möglichkeiten des weltweit agierenden Kapitals. Also orientiert sich man sich an angeblichen Standortinteressen und versucht, Arbeitsplätze in einem Produktivpakt mit dem Unternehmerlager zu Marktbedingungen zu verteidigen. Dies geht nur durch stärkere Auspressung der Lohnarbeit, also Rationalisierung, Flexibilisierung, Lohnsenkung, Entlassung. Die Gewerkschaften geben ihre Gestaltungs- und Schutzfunktion in dem Moment auf, in dem sie sie dringend brauchen.
Für Kapital und Regierung ist der Öffentliche Dienst ein Instrument zur Durchsetzung ihrer Herrschaftsinteressen: Stabilisierung der Gesellschaft, Bereitstellung von Infrastruktur, Ausbildung und Wiederherstellung von Arbeitskraft usw. Aber er ist auch ein Kostenfaktor und soll deshalb sparsam wirtschaften. Die produktiveren Teile dagegen sind als Anlagesphäre begehrt. Nicht zuletzt soll es damit möglich sein, die letzte Bastion gegen ungebremste Marktlogik zu schleifen. Die Linie von ver.di hiergegen lautet etwa: Anpassung an Unternehmensinteressen, Tarifrechtsreform und Privatisierung sind nicht zu verhindern, also muss mitgemacht werden, um noch ein wenig »gestalten« zu können. Dies steigert die Aggressivität und die Wünsche nach mehr auf der anderen Seite, wie die Forderungen der kommunalen Arbeitgeber nach weiterer Arbeitszeitverlängerung und andere Bedingungen zur Tarifrunde verdeutlichen.
Positionen der Tarifrunde 2008
Als zentrale Punkte für 2008 stellten sich heraus: Ver.di will deutliche Lohnerhöhungen, Bund und Kommunen fordern längere Arbeitszeiten. Die Gewerkschaft erwartet eine harte, komplizierte Tarifrunde. Die Bundestarifkommission konnte sich der Stimmung in den Betrieben und den Forderungen aus einigen Landesbezirken nicht entziehen, hat sie aber deutlich unterboten: 8 Prozent Entgelterhöhung, mindestens aber einen Festgeldbetrag in der Tabelle von 200 Euro. Dazu kommt die Einbeziehung der Ergebnisse auch für die öffentlichen Bereiche der Versorgungswirtschaft, den Nahverkehr und die Beamten. Die Auszubildenden sollen 120 Euro mehr und eine verbindliche Übernahmeregelung bekommen. Fragen von Arbeitszeit und Eingruppierung sollen nicht in die Tarifrunde einfließen, um undurchsichtige Kompensationsgeschäfte zu erschweren.
Es geht um 2,1 Mio. Beschäftigte bei Bund und Kommunen. Die bereits 2006 beschlossene Lohnerhöhung für die Tarifbeschäftigten der Länder von 2,9 Prozent (TV-L) spielt für ver.di keine Rolle, da die konjunkturellen Daten heute besser seien als 2006. Die jetzt logisch erscheinende Folgerung, auch für die Landesbeschäftigten einen Nachschlag zu fordern, scheitert an legalistischem Denken. Ver.di hält sich an Laufzeiten und Friedenspflicht, und die sind nun mal für TVöD und TV-L unterschiedlich. Im Gewerkschaftstag hatte in der Aussprache ein Kollege dieses Problem angesprochen: »Warum können wir die Tarifverhandlungen und die Tarifrunden nicht bündeln? Wir sind eine starke Organisation, wir können zumindest stark sein. Wieso gibt es in dem einen Monat eine Tarifrunde in einem bestimmten Bereich, zwei Monate später in einem anderen Bereich dieser Organisation? Wieso schaffen wir es nicht, noch nicht einmal in einem Fachbereich, die Tarifrunden zusammenzufassen und dann die geballte Kraft der Organisation einzusetzen? Dieses Nacheinander macht uns langfristig kaputt.«
Die Umsetzung dieser grundlegenden Forderung entspräche theoretisch dem Gründungskonsens von ver.di. Dass sie organisatorisch und politisch alles andere als einfach wäre, liegt auf der Hand. Entscheidend ist jedoch, dass sie nicht einmal angegangen wird. Von den innergewerkschaftlichen Machtverhältnissen her gesehen, wurde ver.di eben nicht gegründet, um für Tarifrunden und Klassenkämpfe die Kräfte zu bündeln, sondern auf den voranschreitenden Mitgliederschwund mit Senkung von Kosten, mit betriebswirtschaftlicher Rationalisierung des Apparats zu reagieren. Das legalistische Denken, die Einstellung auf Sozialpartnerschaft sind allen bisherigen Erfahrungen zum Trotz auf allen Ebenen nahezu ungebrochen. Symptomatisch ist die Verschiebung der Programmdiskussion, die inhaltlich bisher ohnehin wenig an Alternativen bietet. Eine tiefgreifende politische Diskussion von der Interessenlage der Lohnabhängigen gegen die Ansprüche des Kapitals ist eine unabdingbare Voraussetzung.
Die Forderungen der Tarifrunde entsprechen dem derzeitigen Klima in den Betrieben und Verwaltungen weitgehend: Auf der einen Seite seit 2005 keine Entgelterhöhungen mehr, auf der anderen Seite rasant steigende Lebenshaltungskosten und zunehmende Arbeitsverdichtung – das sorgt für entsprechende Stimmung. Wie die Gewerkschaft das unter den geschilderten Voraussetzungen konkret umsetzen wird, ist noch unklar. Kampfstarke Bereiche, wie früher der Nahverkehr und die Müllentsorgung, stehen kaum noch zu Verfügung. In vielen Bereichen, wie gerade noch im Einzelhandel gezeigt, sind spürbare Auswirkungen von Arbeitskämpfen kaum zu bemerken, weil die »Arbeitgeber« in Dienstleistungsbereichen vielfältige Möglichkeiten haben, Abwesenheit der Beschäftigten zu kompensieren (z. B. durch Leiharbeit, auch wenn dies im Streik offiziell verboten ist).
Diese Bedingungen hat ver.di mitgeschaffen und ist daher mitverantwortlich. All die »Reformen«, Flexibilisierungen und Öffnungen in den Tarifverträgen, im Arbeitsrecht (z. B. Teilzeit- und Befristungsgesetz, Arbeitnehmerüberlassung), im Sozialrecht (z. B. Hartz IV) und bei der Privatisierung öffentlicher Betriebe und Einrichtungen haben ihre verheerenden Auswirkungen auf die Kampffähigkeit der Lohnabhängigen und ihrer Gewerkschaften. Mit vielfältigen Möglichkeiten unterlaufen Arbeitgeber Arbeitsschutzrechte (z. B. bei Einstellungen/Entlassungen) und Tarifbindungen, lassen Streikmaßnahmen der Gewerkschaften nahezu wirkungslos verpuffen und erpressen immer neue Zugeständnisse auch bei starker Mobilisierung wie zuletzt im Telekomstreik. Dies demoralisiert Beschäftigte, auch die Aktiven unter ihnen. Andererseits treten immer auch neue Gruppen in Auseinandersetzungen ein, wie etwa in den Streiks im Öffentlichen Dienst um die Arbeitszeit 2006. Hier gilt es dann, kontinuierliche Gewerkschaftsarbeit neu zu entwickeln und politisch klar im Interesse der Lohnabhängigen zu orientieren. 23. Januar 2008 ■