aus Arpo Nummer 1, 2006

V E R . D I   G E G E N   D R O H E N D E   A R B E I T S Z E I T V E R L Ä N G E R U N G   U N D   L O H N R A U B

Was soll daraus noch werden?

Seit nunmehr sechs Wochen befinden sich Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes im Abwehrkampf, ohne das ihrer Gewerkschaft insgesamt ein Durchbruch gelungen wäre. Nur mit zwei der drei bestreikten kommunalen Arbeitgeberverbände, Hamburg und Niedersachsen, konnte ein Kompromiss erzielt werden. Aber auch der wurde mit einergrundsätzlichen Zustimmung zur Verlängerung der Arbeitszeit erkauft, und nur für Teile der Belegschaften konnte die 38,5-Stunden-Woche verteidigt werden. Nur 42 Prozent der Mitglieder in Hamburg stimmten deshalb der dortigen Vereinbarung zu.

Immer stärker gerät ver.di in die Defensive, denn für den öffentlichen Dienst gilt: Je länger ein Streik dauert, desto mehr wächst die Gefahr, dass der Unmut der BürgerInnen über die Streiklasten sich gegen die Gewerkschaft wendet. Und der Öffentlichkeit – und damit auch den Beschäftigten in anderen Branchen und Industriezweigen – ist die grundsätzliche Bedeutung dieses aktuellen Konflikts nicht bewusst.

Am 13. März 2006 schickte der ver.di-Bundesvorstand (Bsirske, Mönig-Raane, Martin) ein Rundschreiben an alle Gliederungen der Organisation:

»Im Kern will eine Mehrheit der Ministerpräsidenten, angeführt von den Herren Stoiber, Wulff und – im Hintergrund – Koch, die Gewerkschaften vor die Wahl stellen, sich entweder dem Diktat der Arbeitgeber zu beugen oder künftig zentrale Fragen wie Arbeitszeit und Lohn nicht länger tariflich regeln zu können. In jedem Fall wollen diese Arbeitgebereinseitig bestimmen – so oder so. Was hier – ausgehend vom Öffentlichen Dienst – auf die Tagesordnung gesetzt wird, ist ein grundlegender Bruch im Tarifsystem: Nicht etwa nur der Ausstieg aus dem Flächentarifvertrag, sondern der Versuch, eine Dynamik in Gang zu setzen, ganze Bereiche im Zweifelsfall tariffrei zu machen.

«Der ver.di-Bundesvorstand – und auch die DGB-Führung und die Vorstände der anderen Einzelgewerkschaften – wissen also, worum es geht. Es fehlt ihnen der Wille und vor allem die Fähigkeit, dem politischen Angriff der Unternehmer und im Gefolge der bürgerlichen Parteien auf gleicher Ebene zu begegnen. Ge- und befangen in ihrer Rolle als »Tarifpartner« suchen sie nach Lösungen und benutzen Mittel, die auf der Ebene des Tarifvertragswesens und somit im Rahmen des deutschen Arbeitsrechtes verbleiben. Damit aber kann man die politischen Angriffe nicht abwehren, da die Gegenseite gerade diese Instrumente so vorzüglich für sich zu nutzen versteht. »Wir wollen mit den Mitteln der Tarifpolitik einen Beitrag zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit leisten und die Vernichtung von Arbeitsplätzen verhindern«, argumentiert Alfred Wohlfahrt, Verhandlungsführer von ver.di in Baden-Württemberg.

Die Tariflandschaft des Öffentlichen Dienstes aber gleicht längst einem Flickenteppich. Dazu hat ver.di mit seinen Tarifabschlüssen der letzten Jahre selbst beigetragen. Die Möglichkeiten einer legalen Ausweitung der Streiks sind dadurch eng begrenzt. Es gelang in den letzten Jahren mit den Mitteln der Tarifpolitik nicht einmal, bestehende Arbeitsbedingungen zu verteidigen. Wie soll dann die Arbeitslosigkeit bekämpft werden? Es fehlt zudem die tätige Solidarität der anderen Gewerkschaften. ver.di kämpft gezwungenermaßen stellvertretend für die gesamte Gewerkschaftsbewegung. In Reden wird dies zuweilen angesprochen. Doch es fehlt eine klare Aussage, wie die Kampfansage der Arbeitgeber zu beantworten sei. In der Öffentlichkeit wird der Eindruckerweckt, als ginge es um eine Tarifrunde, die nur die unmittelbar Beteiligten unter sich auszumachen hätten. Das ist lächerlich. Denn speziell in diesem Konflikt gilt: Wenn der politische Charakter nicht hinreichend klar und deutlich erklärt wird, bekommen notwendigerweise diejenigen Oberhand, für die ein Streik »nicht mehr in die Landschaft passt«.

Führt die Gewerkschaft die Auseinandersetzung ausschließlich auf der Ebene des Tarifrechtes, so ist der Kniefall vorprogrammiert. Der scheint sich anzudeuten. ver.di hat unter dem zunehmenden Druck ihre Streiktaktik geändert. Die Beschäftigten sollen nicht mehr durchgehend, sondern punktuell und zeitlich flexibel (d.h. begrenzt) die Arbeit niederlegen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung frohlockt am 21. März – schon vor dem Ende der Auseinandersetzung: »Inzwischen sind alle Versuche fehlgeschlagen, die Tarifauseinandersetzung parteipolitisch zu hintertreiben. Die bewusst von einigen SPD-Politikern inszenierte Kritik am Verhandlungsführer der Arbeitgeber[…] Hartmut Möllering ist nahezu verstummt.[…] ver.di ist politisch isoliert – und auch in der Bevölkerung schwindet der Rückhalt.[…] ver.di muss den Ausstand abbrechen, bevor er sich totläuft und die Niederlage offenkundig wird. Der Befund ist eindeutig: ver.di ist am Ende.

«Es zeigt sich: auch ein groß angelegter Streik kann nicht mit konventionellen Mitteln und mit den alten Methoden gewonnen werden. Betroffene, wie z.B. Eltern mit schulpflichtigen Kindern, Patienten und deren Angehörige, wurden allgemein nicht ausreichend einbezogen und mit der Frage konfrontiert, in welcher Gesellschaft sie eigentlich leben wollen. Das kann nicht geleistet werden, solange die Gewerkschaft mehrheitlich an Leitmotiven des kapitalistischen Standortwettbewerbs festhält. Inhaltliche Alternativen sind von der Gewerkschaftsführung, mögen sie Bsirske, Martin oder Schlecht heißen, nicht zu erwarten. Diese zu erarbeiten ist eine Aufgabe für die klassenbewussten Linken. Bei der gegenwärtig laufenden Programmdebatte in ver.di ist eine Kurskorrektur in diese Richtung nicht einmal ansatzweise zu erkennen.

Im laufenden Streik als auch in der inhaltlichen Debatte zeigt sich die Schwäche der klassenbewussten Linken. Sie ist zersplittert, regional isoliert und nicht in der Lage, als politisch organisierte Kraft bzw. als Gewerkschaftsopposition in das Streikgeschehen und die innergewerkschaftliche Debatteeinzugreifen. Die kleinen Gruppen der Gewerkschaftslinken, ob sie als übergreifende Netzwerke betrieblicher Einzelkämpfer oder als kleine Oppositionsgruppen innerhalb von Einzelgewerkschaften agieren, können sich kaum Öffentlichkeit verschaffen oder versäumen dies gar im aktuellen Konflikt. Trotz dieser schlechten Ausgangslage: Mit unserenbescheidenen Mitteln müssen wir die Streikenden unterstützen und für ein politisches Verständnis des Abwehrkampfeswerben. Über dessen Ausgang zu spekulieren betrachten wir nicht als unsere Aufgabe, solange der Kampf noch anhält.

Die überwältigende Zustimmung für den Arbeitskampf in den Urabstimmungen, die im Streik erlebte Gemeinsamkeit und Solidarität und die politischen Erfahrungen stellen einen Schritt nach vorne dar angesichts der Lähmung und Passivität der vergangenen Jahre. In diesem Konflikt geht es aber keineswegs um eine normale »Tarifrunde 2006«, sondern um die Abwehr des Arbeitgeberdiktats, den Erhalt der Reste des Flächentarifvertrags und den Nachweis, dass ver.di noch konfliktfähig ist. Viel zu lange hat ver.di versucht, der verschärften Gangart der öffentlichen Arbeitgeber seit der ausgehenden Kohl-Ära und insbesondere unter SPD-Grün auszuweichen, nun kämpft die Gewerkschaft unter drastisch verschlechterten Bedingungen. Dieser Streik wird, so oder so, nachhaltige Folgen für das Organisationsverständnis in ver.di haben.

Wir bringen im Folgenden eine detaillierte Darstellung der komplizierten Tariflandschaft und des Streikgeschehens im Öffentlichen Dienst.    27.3.2006 ■