aus Arpo Nummer 6, 2005

D I E    A R B E I T S T E I L U N G    D E R    V O L K S P A R T E I E N

Große Koalition der Sozialräuber

Die große Koalition ist die formale Festschreibung eines Zustandes, der in Zeiten des organisierten Sozialabbaus nicht neu ist. Konkret über den Bundesrat, informell über Absprachen ist die Zusammenarbeit der großen Parteien im Regierungssystem der BRD immer gesichert. In den sieben Jahren SPD-Grün war das sehr deutlich, da diese Koalition in den Ländern eine Wahl nach der anderen verlor, ohne dass der Kurs geändert wurde. CDU/CSU artikulierten die Kapitalinteressen, die SPD disziplinierte die Gewerkschaften. In der neuen, engeren Konstellation geht die Führung in dieser Arbeitsteilung auf gemeinsamer Grundlage an die CDU.

Das Unternehmerlager konnte sich bei der Regierungsbildung programmatisch nicht in dem Umfang durchsetzen, wie es bei einer schwarz-gelben Koalition der Fall gewesen wäre. Mit Rücksicht auf Profilsorgen der SPD, aber auch des eigenen »Arbeitnehmerflügels« musste die CDU-Führung Zugeständnisse in Fragen der Tarifautonomie, der Arbeitsmarktpolitik, der Sozialsysteme und der Steuerpolitik machen. Damit sind diese Punkte nicht von der Agenda gestrichen, zumal die Unternehmerverbände nicht bereit sind, das so zu akzeptieren. Es kommt auf die künftige Umsetzung an und darauf, wo die Konfliktlinien verlaufen werden, vor allem auf außerparlamentarische, betriebliche und gewerkschaftliche Aktionen. Gesprächsangebote der DGB-Spitze an die Unternehmerverbände machen deutlich, dass die Gewerkschaftsführung den Deckel auf dem Topf halten will. Für Unternehmer und konservative Presse bedeutet schon dies eine nicht hinnehmbare Verzögerung in der Neustrukturierung der kapitalistischen Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen in der BRD, wie sie sich das vorstellen.

Die »Wirtschaft« will weitere drastische Kürzungen bei der sozialen Sicherung und sonstigen Staatsausgaben, die nicht direkt den Unternehmen zugute kommen, sowie die Beschneidung von betrieblichen und gewerkschaftlichen Rechten der Lohnabhängigen. Gewarnt wird vor weiterem wirtschaftlichem Abstieg Deutschlands, wenn die Regierungspolitik nicht endlich die Interessen der Unternehmer konsequent in den Mittelpunkt stelle, das heißt Widerstände und Partikularinteressen bei Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und in den eigenen Reihen ausschaltet. Auch die so genannten Sachverständigen stellten dies in ihrem Herbstgutachten noch einmal klar, so dass dieses stellenweise zu einer direkten Kritik der Koalitionsverhandlungen (zum Beispiel in der Frage der Erhaltung der Steuerfreiheit von Sonn-, Nacht- und Feiertagszuschlägen) geriet. Hinzu kommt die Drohung wegen Verstoßes gegen EU-Richtlinien.

Zwar reißt die BRD schon seit Jahren die Hürden der Maastricht-Kriterien, ohne dass aus Brüssel Sanktionsmaßnahmen ernsthaft in Angriff genommen werden. Als zusätzliche Disziplinierung wird das Argument trotzdem ins Feld geführt, und die neue Bundesregierung könnte durchaus selbst um Verschärfung des Verfahrens »bitten«, um eine Begründung zu bekommen.

Der Koalitionsvertrag

Die Überschrift des Koalitionsvertrages – »Gemeinsam für Deutschland« – macht die Richtung klar: Bürgerliche Politik versteht unter »Deutschland« den Vorrang der Kapitalinteressen. Alles andere – »mit Mut und Menschlichkeit« – ist für das Poesiealbum. Die Realität sieht anders aus. Der vorgeschobene »strukturelle Fehlbetrag von mindestens 30 Mrd. EUR« im Bundeshaushalt wird bei Lohnabhängigen, Erwerbslosen, RentnerInnen, Kranken usw. eingetrieben, sofern die Rechnung der Großkoalitionäre aufgeht.

Egal, ob mit der Mehrwertsteuererhöhung Haushaltslöcher gestopft oder die so genannten Lohnnebenkosten gesenkt werden sollen: Klar ist, die Unternehmen werden entlastet, dagegen die Lohneinkommen belastet. Je schmaler die Lohneinkommen sind, desto höher ist der Anteil, der für notwendigen Konsum – und damit für die Mehrwertsteuer ausgegeben werden muss. Noch weiter geschmälert werden die Lohneinkommen noch durch den Teil der sozialen Sicherung, der schon bisher aufgrund der »Senkung von Lohnnebenkosten « nicht mehr als Gemeinschaftsaufgabe finanziert wird (zum Beispiel Zusatzzahlungen bei Gesundheitsleistungen).

Die Senkung der Sozialabgaben nutzt den Unternehmern, denn Arbeitskraft wird billiger. Was die Lohnabhängigen dabei sparen, geht dagegen für Privatversicherung mindestens drauf – einen Vorteil haben allenfalls junge, gesunde Menschen, die von Allianz & Co als »gute Risiken« eingestuft werden. Alle anderen werden Opfer des Abnehmens gesellschaftlicher Solidarität. Die gesetzlichen Sozialversicherungen gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Altersarmut und Pflegebedürftigkeit sind keine Nebenkosten, sondern Kollektiveigentum der lohnabhängigen Menschen, das verteidigt werden muss. Massenarbeitslosigkeit ist keine Folge zu hoher Lohnnebenkosten, sondern umgekehrt: Sie gefährdet die Sozialsysteme durch notwendige hohe Ausgaben bei schrumpfenden Einnahmen. Die »industrielle Reservearmee « war schon zu Marx' Zeiten zwangsläufiger Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise; in unserer Zeit kommt ein wachsendes Heer dauerhaft Ausgegrenzter hinzu, das sich in französischen Städten bereits kräftig zu Wort gemeldet hat.

In dieselbe Richtung gehen die Verschärfungen bei »Hartz IV«. Der Staat will den Menschen unter die Bettdecke schnüffeln, um »Bedarfsgemeinschaften« zu überprüfen, und Jugendlichen vorschreiben, ihre Pläne für ein halbwegs selbstbestimmtes Leben aufzugeben. Die Anhebung des Regelsatzes beim Arbeitslosengeld II im Osten auf »Westniveau « ist dagegen eine Selbstverständlichkeit. Der Kampf der Sozialinitiativen und der Gewerkschaften muss auf eine deutliche Anhebung (500,– Euro) und Abschaffung des Repressionsmittels Ein-Euro-Job zielen.

Die von der SPD unter der Parole »starke Schultern sollen mehr tragen« durchgesetzte Reichensteuer auf Jahreseinkommen von 250.000 EUR ist Augenwischerei. Unternehmen werden ausgenommen, um die Konkurrenzfähigkeit nicht zu gefährden. Nur dem »privaten« Reichtum wird zugemutet, von den Steuergeschenken der letzten 10 Jahre ein kleines bisschen zurückzugeben. Darin drückt sich die Sorge aus, dass angesichts der Unverschämtheiten in der vermögenden Schicht der Zusammenhalt der Gesellschaft, für den sich Sozialdemokraten zuständig fühlen, perspektivisch auch hierzulande einmal schwierig werden könnte.

In einem Brief, in dem der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge seinen Austritt aus der SPD wegen dieses Koalitionsvertrages begründet, heißt es: »Seit über 30 Jahren, als die sozial-liberale Koalition unter Helmut Schmidt damit begann, verabreicht jede Regierung dem Land im Grunde dieselbe Medizin: Entlastung des Kapitals und Entfesselung der Marktkräfte. Da sie nie wirkte, erhöhte man regelmäßig die Dosierung, ohne zu erkennen, dass in Wirklichkeit die Medizin die Krankheit ist. Die neue Regierung folgt der alten Philosophie, dass die Arbeitslosigkeit sinke, wenn man mit den Beiträgen (der Arbeitgeber) zur Sozialversicherung die Lohnnebenkosten drückt.« Bei aller Berechtigung dieser Kritik ist es falsch, PolitikerInnen Unwissenheit zu unterstellen, die mit sachlicher Aufklärung oder Politikberatung von der richtigen Seite zu heilen wäre. Die »Medizin« und ihre »Dosierung« werden nicht von unfähigen Ärzten verabreicht, sondern solchen, die wissen, was ihre Auftraggeber wollen. Bürgerliche Politik ist Vertretung von Kapitalinteressen, und dies heißt hier, Schwierigkeiten in der Kapitalverwertung und im Staatshaushalt durch Ausplünderung der Lohnabhängigen und ihrer Familien zu lösen.

Neue Reformlinke im Parlament

Als Reformen im klassischen sozialdemokratischen Sinne, etwa zu Regierungszeiten Willy Brandts, waren solche zu verstehen, die die Lebensverhältnisse der »kleinen Leute«, insbesondere der Lohnabhängigen, verbesserten. Sie stabilisierten nicht nur den Kapitalismus, wie zu Recht kritisiert wurde, sie brachten auch echte Erleichterungen, etwa in der sozialen Sicherung, in den Arbeitsschutzrechten oder in der Schulbildung für Arbeiterkinder. Dieser traditionelle Reformbegriff findet sich derzeit allenfalls bei der Linkspartei. Ihre neu gebildete Bundestagsfraktion beschloss ein Hunderttageprogramm mit folgenden zehn Punkten:

01.Weg mit Hartz IV – soziale Grundsicherung einführen;
02. Abzug der Bundeswehr von Auslandseinsätzen und der US-Atomwaffen aus Deutschland;
03. Mindestlohn einführen (1400 Euro);
04. Mehr direkte Demokratie – zivilgesellschaftliche Strukturen stärken;
05. Beseitigung von Kinderarmut als ersten Schritt zur sozialen Grundsicherung;
06. Zukunftsinvestitionsprogramm für Deutschland – Fahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse;
07. Steuergerechtigkeit;
08. Einführung einer Ausbildungsabgabe;
09. Bildung – gleicher Zugang, gleiche Qualitätsstandards für alle;
10. Initiative gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie.

Das sind durchaus andere Töne, als von den Parteien des neoliberalen Einheitsdenkens zu hören sind. Solche Forderungen geben den Interessen von Lohnabhängigen und Erwerbslosen Ausdruck und stehen den derzeitigen politischen Absichten der Herrschenden entgegen. Ungeachtet der Realisierungschancen ist damit zumindest ein Signal gesetzt, dass Politik nicht alternativlos ist. Ein solches Programm kann einer außerparlamentarischen Bewegung den Rücken stärken.

Die sozialen Bewegungen können dort Etliches wiederfinden, was sie so oder ähnlich, mit geringem Erfolg, selbst fordern. Auch für die Betroffenen selbst können kleine Verbesserungen ihres Alltags einen wesentlichen Unterschied ausmachen. Parlamentarisch geschaffene Freiräume könnten es ihnen erleichtern, erneut mit ihren Anliegen an die Öffentlichkeit zu treten. Zurzeit sind die Proteste schwach. Der Schwung der Montagskundgebungen ist längst dahin, die Empörung über Ein-Euro-Jobs und ihre schädlichen Wirkungen auf reguläre, sozialversicherungspflichtige, tarifgebundene Arbeitsverhältnisse ist bisher weitgehend verbal geblieben. Erste Aktionsforderungen gegen das Programm der großen Koalition wurden auf dem Bundeskongress der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken (15. Oktober) und der Aktionskonferenz der sozialen Bewegungen (19./20. November) gestellt, vor allem nach einer bundesweiten Demonstration, ähnlich dem 1. November 2003. Inhaltlich schälen sich Forderungen nach einem gesetzlichen Mindestlohn, einem garantierten Grundeinkommen, Arbeitszeitverkürzung etc. als verbindende Elemente der verschiedenen Strömungen heraus.

Ob die Linkspartei ihrerseits Anschub liefern kann bzw. will, ist derzeit offen. Sie vertritt keinen unabhängigen Klassenstandpunkt, selbst ihre im reformerischen Sinne soziale Programmatik ist eher defensiv und den herrschenden Verhältnissen angepasst. Eine Forderung von TeilnehmerInnen der Aktionskonferenz (darunter Schmitthenner vom Hauptvorstand der IG Metall) nach einer »strategischen Allianz« könnte leicht zur strategischen Falle werden. Die Mehrheit der Linkspartei und erst recht ihre Zugpferde im Wahlkampf und in der jetzt bestehenden Fraktion setzen auf die Konstituierung einer »normalen« Wahlpartei, die irgendwann, möglichst schon 2009, auf Bundesebene regierungsfähig wird. Was das bedeutet, führt sie in zwei Bundesländern vor:
In Berlin hat sie die Abwicklung des Bankenskandals zulasten der Steuerzahler und die Tarifflucht im öffentlichen Dienst zulasten der Beschäftigten mitgetragen, in Mecklenburg-Vorpommern die Zustimmung der Landesregierung zum Zuwanderungsgesetz im Bundesrat durchgehen lassen; in beiden Ländern setzt sie Hartz IV um mit der Begründung, dass dies nun mal die Gesetzeslage sei.

Die sozialen Bewegungen und die Gewerkschaftslinke stehen vor der Gratwanderung, neue Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit und des politischen Drucks zu nutzen, ohne der Gefahr zu erliegen, zum Objekt parlamentarischer Taktiken zu werden. Zu große Hoffnungen auf die Linkspartei können eigenständige Aktivitäten und Organisationsansätze in ihrer Entfaltung eher behindern als fördern. Für die effektive Kontrolle einer linken Fraktion im Bundestag fehlt derzeit die außerparlamentarische Bewegung. Diese wird durch das kleinbürgerliche »Stellvertreter«-Denken unter den Unterstützern der Linkspartei eher gehemmt als gefördert.

Gewerkschaften erneut auf SPD-Kurs

Auf den ersten Blick scheinen die Gewerkschaften mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. In der Koalitionsvereinbarung musste die CDU-Führung der SPD offensichtlich in zwei Punkten nachgeben: Die Tarifautonomie wird nicht angetastet (über betriebliche Bündnisse muss geredet werden) und die Lohnzuschläge für Nacht-, Schicht- und Feiertagsarbeit bleiben steuerfrei. Die Verlängerung der Probezeit bei Neueinstellungen per Arbeitsvertrag auf zwei (bei Existenzgründungen sogar vier) Jahre ist freilich ein großer Schritt weiter auf dem Weg, den die Unternehmer gehen wollen. Nun ist der Kündigungsschutz, um dessen Abschaffung es hier geht, unter derzeitigen Bedingungen ohnehin löcherig wie ein Schweizer Käse. Lohnarbeit im Kapitalismus stellt sich derzeit als »Leben auf Probe« dar. Dennoch ist dies ein zusätzlicher Schlag, der die Gewerkschaften daran erinnert, dass es noch schlimmer kommen könnte. Prompt kriechen die Spitzen von DGB und Einzelgewerkschaften zu Kreuze und finden viel Positives an der neuen Koalition.

»Der Kampf hat sich gelohnt«, jubelte die Pressestelle des Landesbezirks Hessen von ver.di. Die Union hatte die Steuerfreiheit abschaffen wollen. »Vier Monate, eine erfolgreiche Gewerkschaftskampagne und ein ungewöhnliches Bundestagswahlergebnis später steht fest: Sie bleibt!« ver.di-Hessen hatte eine Unterschriftsaktion gestartet, die gegen Abschaffung der Steuerfreiheit gerichtet war, und dabei, ausgehend von den Beschäftigten des Frankfurter Flughafens, mehr als 55.000 Unterschriften gesammelt. Es ist offensichtlich, dass die Gewerkschaften in der Defensivlage, in der sie sich seit nahezu zwei Jahrzehnten befinden, sich auch mit politischen Kampagnen gegen Angriffe wehren müssen. Problematisch ist, wie sie sie auswerten und welche Schlussfolgerungen sie daraus ziehen.

Die DGB-Führung hat auf den offenen Bruch, den die SPD mit der Agenda 2010 gegenüber den Gewerkschaften vollzog, nie so darauf reagiert, dass daraus kämpferische Folgerungen zu ziehen seien und ein eigenständiger Kurs entwickelt werden müsse. Nur unwillig haben sich DGB, IG Metall, ver.di, IG BCE auf die Anti-Hartz-Proteste eingelassen, um nach einem Aktionstag im April 2004 gleich das Ende zu erklären. Kamingespräche beim Kanzler ziehen sie vor. Die Angriffe auf die Flächentarifverträge glauben sie durch tarifliche und betriebliche Zugeständnisse abmildern zu können (Metall: Pforzheimer Abschluss; Öffentlicher Dienst: Tarifrechtsreform), fordern damit jedoch die Begehrlichkeit des Kapitals noch weiter heraus. Bei Tarifrunden kommt immer weniger heraus: Deutschland ist bei Lohnzuwächsen Schlusslicht in Europa. In der Autoindustrie und im Einzelhandel gingen wichtige Häuserkämpfe verloren, bei ver.di sind etliche Branchen (zum Beispiel Papierverarbeitende Industrie) im tariflosen Zustand. Die Privatisierung im öffentlichen Dienst, zum Beispiel Krankenhäuser, schreitet fort. Prekäre Arbeitsverhältnisse
nehmen zu. Kritik und Gleichgültigkeit der Mitglieder wachsen und schlagen sich in Austritten nieder.

Die Entstehung der WASG kam mit einer gewissen Folgerichtigkeit. Von den Gewerkschaftsführungen (taktische Ausnahme: Bsirske) wurde sie ignoriert oder bekämpft, obwohl diese Gruppierung überwiegend nichts anderes wollte, als zu besseren sozialdemokratischen Zeiten zurückzukehren. Immerhin traute sich die DGB-Spitze nicht, im Wahlkampf offen für die SPD Partei zu ergreifen. Sie wandte sich aber deutlich gegen eine drohende Regierungsbeteiligung der FDP und gegen das Steuermodell »Paul Kirchhof«. Zwischen den Zeilen stand die große Koalition als geringeres Übel und die Orientierung auf eine taktisch scheinbar neu ausgerichtete SPD, die wieder als Bündnispartner ausgegeben werden kann.

Genau dies geschieht jetzt. ver.di preist die Rettung der Steuerfreiheit der Zuschläge und die Erhaltung der Tarifautonomie als Errungenschaft einer wiederentdeckten Partnerschaft von SPD und Gewerkschaften. DGB-Chef Sommer wirbt für eine Neuauflage des »Bündnisses für Arbeit«, jetzt »Neuer Sozialer Dialog« genannt. Der Kurs ist der alte, die Spitzen von DGB und Einzelgewerkschaften sind jetzt dichter in das Co-Management auf Regierungsebene verwickelt als zu Zeiten von SPD-Grün. Erneut erklären sie, den Karren gemeinsam aus dem Dreck ziehen zu wollen, in den er durch die Politik des Kapitals geraten ist. Sie fühlen sich der bestehenden Ordnung – Privateigentum an Produktionsmitteln und bürgerliche Demokratie – sehr viel stärker verpflichtet als den Klasseninteressen der Lohnabhängigen.

Den vorläufigen Höhepunkt dieses Verantwortungsgefühls für die Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Systems erreichten ver.di und IG BCE in einer gemeinsamen Erklärung mit den Energie-Konzernen E.on, RWE, Vattenfall und EnBW. In einer Argumentationsweise, die man bisher von der IG BCE zur Genüge kennt, von ver.di aber noch nicht, appellierten sie an die künftigen Koalitionspartner, den seinerzeit von SPD-Grün beschlossenen, ohnehin zahnlosen Fahrplan eines Ausstiegs aus der Atomenergie noch einmal zu überdenken. Damit fällt die ver.di-Führung noch hinter Positionen der Schröder-SPD zurück. Kapitalverwertung und Strompreis rangieren vor Sicherheit für Mensch und Umwelt; für eine »Übergangszeit«, so heißt es in dem Schreiben, müssten Atomkraft noch genutzt, Kraftwerkslaufzeiten verlängert und Verschmutzungsrechte umverteilt werden.

Da es sofort Proteste hagelte, musste die ver.di-Führung in Berlin Erklärungen nachschieben, in denen »interpretiert «, aber substanziell nichts zurückgenommen wurde. Dies ist ein krasses Beispiel, das zeigt, wohin die erneuerte Kumpanei von Gewerkschafts- und SPD-Führung geht. Nichts kann ausgeschlossen werden, auch nicht, dass die SPD noch rechts überholt wird. Auseinandersetzungen um den Kurs der Gewerkschaften sind notwendig und dürfen nicht, wie im Fall Linkspartei und WASG, mit dem Vorwurf der Spaltung tabuisiert werden. Gegen die Konzentration der Regierungsmacht in der Großen Koalition muss der Protest verbreitert und die Lähmung durch die Ideologie des kleineren Übels überwunden werden. 20.11.2005 ■