aus Arpo Nummer 3, 2005

T A R I F R E C H T S R E F O R M    I M    Ö F F E N T L I C H E N    D I E N S T :

Ein »Jahrhundertwerk« wird zum
gewerkschaftlichen Abgesang

Der Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst vom 9. Februar ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Obwohl eine Lohntarifrunde turnusmäßig anstand, fand keine statt. ver.di verzichtete nicht nur auf konkrete Forderungen, sondern gleich auf die Kündigung der Lohn- und Gehaltstarifverträge und damit auf die formelle Beendigung der Friedenspflicht als Voraussetzung für Arbeitskampfmaßnahmen. Die Gewerkschaftsseite setzte die anstehende Lohnrunde schlichtweg aus.

Zwar erklärte der Vorsitzende der Gewerkschaft, Bsirske: »Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sollen an der allgemeinen Einkommensentwicklung beteiligt werden.« Doch mehr als ein Appell an die »Dienstherren«, die Gewerkschaft nicht ganz im Regen stehen zu lassen, sollte daraus nicht werden. Hintergrund dieser seltsamen Vorgehensweise war die »Tarifrechtsreform« im Öffentlichen Dienst. Diese wurde als »Prozessvereinbarung« schon in der letzten Tarifrunde 2002/3 eingeleitet, damals im Austausch gegen Entgeltsteigerungen für die Zeit vom 1.1.2003 bis 31.1.2005. Diesmal jedoch gab sich ver.di mit Einmahlzahlungen für die Beschäftigten zufrieden; im Übrigen bleibt das Lohnniveau über die gesamte Laufzeit der jetzigen Vereinbarung – bis Ende 2007 – erhalten.

Kritik von Gewerkschaftslinken geht am Kern des jetzigen Abschlusses vorbei, wenn sie ihn behandelt wie eine normale Lohntarifrunde, die schlecht gemanagt wurde. Über zwei Jahre hinweg wurde der Prozess der Tarifrechtsreform auch von kritischen Aktiven unterschätzt und ignoriert. Deshalb waren auch diese Kreise nicht darauf vorbereitet, dass die Gewerkschaftsspitze die Lohnrunde 2005 schlicht und einfach absagte, weil sie ganz andere Pläne hatte. Jetzt erscheinende offene Briefe von Enttäuschten mit der Forderung, diesen Abschluss nicht zu unterschreiben, deuten in ihrem Inhalt auch darauf hin, dass hier zwei Jahre eine wichtige Entwicklung fast völlig übersehen wurde.

Die »Jahrhundertreform« im Öffentlichen Dienst

Bestrebungen zu einem einheitlichen Tarifrecht für Arbeiter und Angestellte gibt es seit den siebziger Jahren, nun soll ernst gemacht werden. Im Zusammenhang mit der letzten Tarifrunde im Öffentlichen Dienst 2002/2003 wurde am 9. Januar 2003 die so genannte Prozessvereinbarung unterschrieben. Man kann davon ausgehen, dass sie von vornherein als Zugeständnis von der ver.di-Führung geplant war, um die damalige Lohnrunde einigermaßen glimpflich zu bestehen. In dieser Vereinbarung wurde grob festgelegt, in welcher Weise und mit welchen Zielen ein neuer Tarifvertrag gestaltet werden soll.

Neugestaltung des Tarifrechts im Öffentlichen Dienst meint in erster Linie die Vereinheitlichung des Tarifrechts für Angestellte (Bundes-Angestelltentarifvertrag: BAT, BATO) und Arbeiter (Bund und Länder: Manteltarifvertrag für die Arbeiter und Arbeiterinnen des Bundes und der Länder: MTArb, MTArb-O; Bundesmanteltarifvertrag für die Arbeiter und Arbeiterinnen der Gemeinden und Kommunalverbände: BMT-G, BMTG-O). Das Ergebnis soll ein einziger Manteltarifvertrag (Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst: TVÖD) für Arbeiter und Angestellte mit gleichen Arbeitsbedingungen und Bezahlung für beide Beschäftigtengruppen, die Abkopplung vom Beamtenrecht sowie die Angleichung von Ost und West sein.

Auch wenn dies überfällig ist: Das Verfahren war und ist fragwürdig, weil 1. die öffentlichen Arbeitgeber die »Reform « unter das Diktat des Sparzwangs stellen; 2. ver.di den öffentlichen »Arbeitgebern« sehr weit entgegenkommt, wie ja schon die frühere ÖTV Privatisierung und Flexibilisierung von Bereichen des Öffentlichen Dienstes »mitgestaltet« hat, 3. der Verhandlungsprozess weitgehend abgeschlossen verlief und wohl auch weiterhin verläuft, da weder die Basis Öffentlichkeit des Verfahrens  einfordert noch die unmittelbar beteiligten Funktionäre dies von sich aus organisieren.

Der Tarifabschluss am 9. Februar war damit nichts anderes als die Beglaubigung der Ergebnisse der Prozessvereinbarung, die nahezu ohne Öffentlichkeit verhandelt war. Eine klassische Tarifrunde konnte dies nicht werden: Die Gewerkschaftsführung setzte den Abschluss der Prozessvereinbarung auf die Tagesordnung. Das neue Tarifrecht soll ab 1. Oktober 2005 schrittweise in Kraft treten.

Eine Lohnrunde fand nicht statt

Der vorläufige Abschluss der Tarifrechtsreform überschattete die Lohnrunde völlig, weil die Gewerkschaftsführung die Ergebnisse der Prozessvereinbarung festschreiben wollte. Jede Mobilisierung konnte dabei nur stören, und den staatlichen und kommunalen Verhandlern war das natürlich recht. Die Ergebnisse auf diesem Feld waren entsprechend: Eine Nullrunde für die Beschäftigten, mühsam kaschiert durch Einmalzahlungen von 300 Euro pro Jahr über eine rekordverdächtige Tariflaufzeit von 35 Monaten (bis Ende 2007). Die neue Entgelttabelle tritt ab 1. Oktober 2005 in Kraft.

Unter den vielen Öffnungsklauseln des jetzt im Grundsatz abgeschlossenen TVÖD ist eine hervorzuheben, über die in der Öffentlichkeit wenig zu lesen ist – die Meistbegünstigung: Wenn ver.di in einem oder mehreren Landesbezirk(en) einen Tarifvertrag abschließt, der zu einzelnen Arbeitszeit und Entgeltfragen für den Arbeitgeber günstigere Regelungen als der TVÖD enthält, muss sie diese Zugeständnisse allen anderen Partnern auf Bundes- und kommunaler Ebene anbieten. Diese können ohne Verhandlungen entscheiden, ob sie diese annehmen wollen. Damit ist der Erpressung Tür und Tor geöffnet.

Bemerkenswert an diesen Vorgängen ist vor allem, dass sie völlig ohne Diskussion in der Mitgliedschaft und ohne Mobilisierung, quasi in Tagungshotels, stattfinden. Die »Prozessvereinbarung«, so war von hauptamtlichen Funktionären immer wieder zu hören, habe absolute Priorität. Das hieß aber, dass das Einvernehmen mit den zuletzt »im Boot« verbliebenen Arbeitgebern (Bund, Kommunen) Zugeständnisse verlangte. Insbesondere das Einknicken der Gewerkschaft in der Frage der Lohnforderungen war eine direkte Folge davon: Da die Kommunen zur aktuellen Tarifrunde – mit Bezug auf das Vorgehen der Länder – ebenfalls mit der Kündigung der Arbeitszeit drohten für den Fall, dass ver.di Lohn- und Gehaltsforderungen stelle, wurde auf die Kündigung der Lohn- und Gehaltstarifverträge verzichtet.

Probleme mit den Ländern

Besonderer Druck auf die Gewerkschaft entstand durch die härtere Gangart der Länder:

1. Sonderregelungen für Berlin (»Solidarpakt«);
2. Austritt Hessens aus der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL);
3. Kündigung der Arbeitszeitregelung durch eben jene TdL;
4. Verlängerung der Arbeitszeit für Beamte, für die einseitig gesetzliche Regelungen verordnet wurden, die auf Tarifbeschäftigte zu übertragen seien.

ver.di muss also mit den Ländern gesondert verhandeln, d. h. mit der gesamten TdL und nochmal extra mit Hessen und Berlin. Gerade im Länderbereich aber ist die Gewerkschaft besonders schwach: 2,1 Mio. Beschäftigte, darunter nur 123.000 Arbeiter (vorwiegend Straßenmeistereien), ansonsten 787.000 Angestellte und 1,2 Mio. Beamte (Fischer Weltalmanach 2005, S. 136); Organisationsgrad in ver.di 10%.

Wie die noch ausstehende Auseinandersetzung auf Länderebene ablaufen wird, ist offen. Einerseits ist die Gewerkschaft in diesem Bereich schwach, andererseits kann sie politische Differenzen zwischen den Ländern ausnutzen und den TVÖD-Beschluss mit Bund und Kommunen als richtungweisend vertreten. Knackpunkt ist der Standpunkt der TdL (Länder) zur Arbeitszeit, in Verbindung mit der Meistbegünstigungsklausel: Ein für die Arbeitgeber günstigerer Abschluss (z. B. 41-Stunden-Woche) müsste auf Verlangen von Bund und Kommunen auf diese übertragen werden, was den jetzigen Stand bei diesen nachträglich aushebelt.

Im Übrigen ist das neue Tarifwerk noch nicht ganz fertig, denn es gibt noch eine Unmenge an Details zu regeln. Gegen die Aussicht, dies doch noch zur Gegenwehr zu nutzen, sprechen die derzeit resignative Stimmung an der Basis und die Schwäche der klassenbewussten Linken.

Den Standort stärken?

Der so genannte Tarifabschluss ist eine verbindliche Festschreibung der wichtigsten Eckpunkte der Prozessvereinbarung, im Wesentlichen Mantel-, Arbeitszeit- und Entgeltbestimmungen, wie oben zusammengestellt. Der größte Flächentarifvertrag der BRD wurde in einer Abschlussverhandlung von wenigen Tagen, quasi im Vorbeigehen und ohne Mobilisierung, geschweige gewerkschaftsöffentliche Diskussion, konterkariert. Etwa 8 Millionen Beschäftigte sind direkt und indirekt (Anlehnungsverträge) davon betroffen. Dies bedeutet weit mehr als die Regelung spezieller Arbeitsbeziehungen. Politisch geht es um die Umstrukturierung des Öffentlichen Dienstes und damit um die Definition seiner künftigen Rolle.

Die Interessen von Kapital und Regierung:

1. Der ÖD ist Instrument zur Umsetzung herrschender Interessen (Infrastruktur, Ausbildung und Bereitstellung von Arbeitskraft, soziale Kontrolle).

2. Der ÖD soll sparsam wirtschaften, damit das dort ausgegebene Geld nicht die Unternehmerprofite schmälert und durch Verschuldung die Zinsen auf den Kapitalmärkten hoch treibt.

3. Der ÖD ist begehrt als Anlagesphäre (Privatisierung).

4. Der ÖD soll als letzte Bastion gegen neoliberale Ideologie geschleift werden (Kündigungsregeln, Familienzuschläge, Zeitaufstiege, höhere rechtliche Sicherheit als anderswo).

Unternehmerverbände und ihre politische Lobby fordern seit langem die radikale Umstrukturierung des Öffentlichen Dienstes: Reduzierung auf ein »Kerngeschäft«, Senkung der Personalkosten, Stellenabbau, Arbeitszeitverlängerung. Abschaffung familienbezogener Lohnzuschläge. Verstärkt wird diese Richtung durch große internationale Projekte: GATS (General Agreement on Trade in Services); EU (Bolkestein-Richtlinie, Lissabon-Strategie).

GATS fordert internationale Privatisierung und Ökonomisierung von öffentlichen Dienstleistungen, einschließlich Gesundheitswesen, soziale Dienste, Bildung und Kultur. Diese Dienste werden häufig noch durch innerstaatliche Regulierungen geschützt, die den allgemeinen Zugang zu diesen Gütern sichern sollen. Dies soll durch GATS aufgebrochen werden, indem öffentliche und private, einheimische und ausländische Anbieter formal gleichgestellt werden. Gerade die Öffentlichen Dienste sollen verschärftem Wettbewerb ausgesetzt werden, um ihre »Privilegien«, d. h. soziale Verpflichtung, aufzuheben.

Die Bolkestein-Richtlinie setzt das GATS im Raum der EU um. Ob sie mehr oder weniger marktradikal ausfallen soll, ist derzeit unter den Nationalstaaten in Verhandlung.

Die Lissabon-Strategie, die im EU-Gipfel im März 2000 beschlossen wurde, sieht vor, bis 2010 die »Wachstumslücke « der EU zu den USA zu schließen. In der ersten Hälfte dieses Zeitraums sollen die notwendigen Gesetzesänderungen, Tarifvereinbarungen etc. auf den Weg gebracht werden (nicht zufällig trägt das Regierungsprogramm von SPD-Gründen Namen Agenda 2010). ÖD, Sozialsysteme, Gesundheitswesen und Bildung gehören zu den entscheidenden Feldern, die radikal umgepflügt werden.

Internationale Abkommen und EU-Richtlinien fallen natürlich nicht vom Himmel: Sie sind Projekte der großen nationalstaatlichen Regierungen. Die imperialistische Konkurrenz zu den USA – nach dem Wegfall des Systemgegensatzes zur früheren Sowjetunion – ist das treibende politische Motiv des Staats- und Sozialumbaus in der BRD und der EU. Die Schröder-Regierung hat die Agenda 2010 im Interesse des deutschen Kapitals auf den Weg gebracht.

Gewerkschaftliche »Mitgestaltung« 

Alle DGB-Gewerkschaften teilen im Grundsatz diese Sicht der Standortfrage. Arbeitsplätze werden in der Konkurrenz zu anderen verteidigt. Dies gilt in der Privatwirtschaft und – bisher eingeschränkt – im Öffentlichen Dienst, zwischen den Branchen und den Standorten.

Die offizielle Linie von ver.di – Beispiel: Landesbezirksfachbereich 7 (Gemeinden) in Hessen – lautet etwa: Tarifrechtsreform und Privatisierung sind nicht zu verhindern, deshalb keine fundamentale Gegenwehr, sondern mitmachen, denn nur Mitmachen bedeutet Chance auf Mitgestalten. Ein klares Beispiel ist die aus dem TV-V übernommene Niedriglohngruppe in der neuen Entgelttabelle, die tatsächlich unterhalb des bisherigen BAT und BMT-G liegt, mit der man die in den Tarifbereich der IG BAU und NGG oder noch schlechter ausgegliederten Reinigungsdienste, Wäschereien, Küchen etc. zurückgeholt werden sollen. Es ist eine über zehn Jahre alte Position der ÖTV, dass der ÖD nur gerettet werden kann, wenn man ihn »wettbewerbsfähig« macht, d.h. seine bisherige Substanz weitgehend aufgibt. Es geht also mehr darum, Mitglieder irgendwie bei der Stange zu halten, als ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verteidigen und zu verbessern. ver.di passt sich dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis an, wie es sich seit der Wende von 1989 entwickelt hat. Mit der jetzt besiegelten Prozessvereinbarung wird diese hilflose Anpassung auch im Öffentlichen Dienst festgeschrieben, und die bürgerliche Presse spricht lobend von einer »Jahrhundertreform«.

Existenzfrage der Gewerkschaften

Die aus dieser Entwicklung resultierenden Probleme werden zunehmend schärfer. Eine Gewerkschaft, die sich fast nur noch auf Verwaltung und Betreuung der Mitglieder beschränkt, anstatt in Auseinandersetzungen zu den großen politischen Fragen wirksam einzugreifen, steht ihrem rasanten Bedeutungsverlust, der im Kern ein Identitätsverlust ist, hilflos gegenüber. Zu zentralen Themen wie Arbeitszeitregelung, Mindestlohn, Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, Hartz IV, Sozialversicherung werden keine Positionen bezogen, die die Interessen der Lohnabhängigen gegen die Ansprüche des Kapitals klar verteidigen – im Gegenteil: ver.di sieht sich in der Verantwortung, diese Umgestaltungsprozesse politisch zu abzusichern, um den »Standort Deutschland« in der Weltspitze wettbewerbsfähig zu halten. Die Klasseninteressen des Kapitals rangieren höher als diejenigen der Lohnabhängigen.

Solange Gewerkschaften die Orientierung auf ein angebliches, Klassen übergreifendes und national geprägtes »Gemeinwohl« beibehalten, werden sie die Interessen von ArbeiterInnen und Angestellten gegen die Angriffe von Kapital und Regierung nicht verteidigen können. Dazu gehören auch die Bedürfnisse von Erwerbslosen, prekär Beschäftigten, MigrantInnen, Kindern, Alten, Kranken. Dass ver.di Aktionen gegen Hartz IV mit der Argumentation unterläuft, hier würden Angestellte der Arbeitsagenturen angegriffen, ist Ausdruck fehlender Grundsatzpositionen. Solange Abwehrkämpfe nicht konsequent in breitem Umfang organisiert werden, haben auch die Übergriffe auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen kein Ende. F. H. 20.2.2005 ■