aus Arpo Nummer 3, 2004

P R O T E S T   U N D   N I C H T - W Ä H L E N   S I N D   N O C H   K E I N   W I D E R S T A N D

Kapitaloffensive, Proteste und Landtagswahlen

Die Arbeiterklasse und ihre Gewerkschaften sehen sich in diesem Jahr Angriffen ausgesetzt, die in ihrer Breite und Tiefe noch vor kurzer Zeit kaum jemand für möglich hielt. Nicht nur die Sozialgesetzgebung sowie der Öffentliche Dienst, auch die industriellen Kernbereiche der deutschen Wirtschaft sind davon betroffen. Die herrschende Klasse hat begonnen, nun auch in den Bundesländern der Alt-BRD die politischen Früchte ihres Sieges über die DDR einzufahren.

Der sozialreaktionären Gesetzgebung fallen Stück für Stück die gewohnten materiellen Absicherungen bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Rente zum Opfer. Während die Kassen der Unternehmen durch die Aufhebung der paritätischen Finanzierung entlastet werden, wird für die abhängig Beschäftigten das Risiko stärker privatisiert und für immer mehr Menschen die Absicherung bei Krankheit oder für eine ausreichende Altersvorsorge zum »Luxus«. Zugleich untergräbt die seit Jahren betriebene Enteignung staatlicher Einrichtungen und Leistungen die dort geltenden Tarife, was sich verschärft bei den Wohlfahrtsverbänden niederschlägt. Nachdem es einzelnen Städten und Ländern (siehe Berlin und Hessen) gelungen ist, die tariflichen Leistungen abzusenken, wurde im Frühjahr des Jahres mit dem Austritt der Länder aus der Tarifgemeinschaft des Öffentlichen Dienstes der Angriff auf Arbeitszeit und Bezahlung eingeleitet. Das Beamtenrecht wird benutzt, um allen Beschäftigten eine unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeit (und damit eine Absenkung des Lohnes) aufzwingen zu können.

Die Unternehmer rüsten zum Klassenkrieg…

Die Verbände der Wirtschaft (BDI und BDA) beschränken sich nicht mehr darauf, den »schlanken« Staat zu fordern. Sie überlassen die Umverteilung nicht mehr allein den Regierungen, sondern sind jetzt selbst zum Angriff übergegangen. Auch die Tarife in den zentralen Bereichen der deutschen Industrie sollen abgesenkt werden, erst bei Siemens, dann bei Daimler und nun bei VW. Nach den Kommunalwahlen in NRW erfolgte die Ankündung einer weit reichenden Sanierung bei Karstadt. Tausende von Arbeitsplätzen sollen abgebaut, die Arbeitszeit verlängert und die Löhne gesenkt werden. Weitere Bereiche*) (z.B. die Autozulieferer und der Maschinenbau) werden zwangsläufig folgen, sollte es den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften nicht gelingen, ein Beispiel erfolgreicher Gegenwehr zum Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung werden zu lassen. Dies würde auch die Chance bieten, die tiefe soziale und politische Spaltung zwischen Erwerbslosen und Arbeitenden zu überwinden. Denn die Angriffe auf die Sozialgesetzgebung und die Tarife ergänzen und stützen sich gegenseitig. Die Angst, nach Hartz I bis IV und der Agenda 2010 bei Verlust des Arbeitsplatzes innerhalb kurzer Zeit ins soziale Abseits zu stürzen, lähmt die Beschäftigten und Belegschaften. Die Aufrechterhaltung und Vertiefung der Spaltung, nicht nur zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen sondern auch zwischen Ost und West, ist ein Ergebnis dieser Entwicklung und zugleich Voraussetzung zur Durchsetzung weiterer Einschnitte.

…die Gewerkschaften wollen verhandeln

Die Kapital-Offensive trifft auf eine Arbeiterklasse, deren Denken und Handeln durch die Erfahrungen einer jahrzehntelangen »Sozialpartnerschaft« geprägt ist. Dies erschwert nicht nur die ersten Schritte praktischer Gegenwehr, sondern prägt auch die Gewerkschaften. Deren Führungsinstanzen wollen den Kurs der Zusammenarbeit mit dem Kapital und der Regierung fortsetzen und hoffen darauf, dem Abbau in Gesprächen mit der Gegenseite die schlimmsten Spitzen nehmen zu können. Der gewerkschaftliche Apparat erweist sich immer häufiger als unfähig, die gewerkschaftliche Misere selbst bürokratisch zu verwalten. Solche Gewerkschaften werden zunehmend zu einem Instrument beim Sozialabbau und machen sich tendenziell selbst überflüssig.

Den Gewerkschaftsinstanzen gegenüber steht die große Masse der passiven Mitgliedschaft. Sie überlassen die Wahrung der eigenen Belange noch ihren Vertretern in den Betriebsräten und Gewerkschaftszentralen. Wo spontan die Bereitschaft zur Gegenwehr entsteht, versuchen diese »Vertreter« sie in einem Rahmen zu halten, der einer weiteren Unterwerfung unter die Gegenseite nicht im Wege steht. Das zeigte sich bei DaimlerCrysler, wo sich zwar Unmut über die sozialpartnerschaftliche Haltung der IGM und des Gesamtbetriebsrates regte, aber die Kraft zu eigenständigen, darüber hinaus gehenden Aktionen, noch nicht vorhanden war. Eine Politisierung der Auseinandersetzung (mit klassenkämpferischen Inhalten und Formen) versuchen die Gewerkschaftszentralen bisher erfolgreich zu unterbinden.

Zugleich hat sich neben und am Rande der Gewerkschaften eine Bewegung herausgebildet, die ihren Unmut auf die Straße trägt. Die Demonstration der 100.000 vom 1. November 2003 – ohne und gegen die Gewerkschaftszentralen organisiert – fand ihre spontane Fortsetzung in den Montagsdemonstrationen (siehe Berichte im Heft). Eine aktive Minderheit will sich nicht mehr nur auf den Protest mit dem Stimmzettel festlegen lassen. Die Gewerkschaften versagen ihnen die Unterstützung (Montagsdemonstrationen) oder versuchen, sie in ihrem Sinne zu kanalisieren, wie am 3. April 2004.

Volksparteien ohne (Wahl-)Volk

Das veränderte Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und die tief greifenden sozialen Einschnitte werden nicht ohne Einfluss auf politischer und parlamentarischer Ebene bleiben. Das deutet sich in den Wahlen der vergangenen Jahre (jüngst im Saarland, Brandenburg, Sachsen und NRW) an. Die Wahlbeteiligung ist seit langem rückläufig und hat sich bei 55 Prozent (Landtags- und Kommunalwahlen) eingependelt. Die Politik des sozialen Kahlschlags hat in der Bevölkerung zu einer tief gehenden Kluft geführt. Immer mehr Menschen sind vom sozialen Abstieg betroffen oder bedroht und beteiligen sich an Protesten. Die Sozialstaats- und Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung geraten immer stärker in Gegensatz zur Regierungspolitik und zur Propaganda aller bürgerlichen Institutionen. Die Propaganda der herrschenden Klasse will vermitteln, es gelte die sozialen Leistungen zu reduzieren, damit die Unternehmen weltweit konkurrenzfähig sind. soziale Ungleichheit als Anreiz zu größerer wirtschaftlicher Dynamik müsse akzeptiert werden.

Die Politik der Agenda 2010, im März 2003 bekannt gegeben, wurde von weiten Teilen der SPD-Wähler als Bruch mit den Traditionen sozialdemokratischer Werte empfunden. Hartz IV hat bei den Lohnabhängigen als zündender Funke in einem seit langem schwelenden Unbehagen gewirkt. Die SPD verliert überdurchschnittlich in Traditionsgebieten und bei Anhängern in der Arbeiterschaft und in den unteren Mittelschichten; zugleich kommt es zu einer deutlich angestiegenen Wahlenthaltung in diesen Bereichen. Die SPD wird nicht mehr als Vertreter der sozialen Gerechtigkeit angesehen. Die soziale Gerechtigkeit war für die SPD lange Zeit eine Identität stiftende Klammer. Die Partei ist nicht mehr in der Lage, ihre politische Zielsetzung unter diesem zentralen Leitmotiv zu formulieren.

Aber auch die CDU steht vor diesem Problem. Waren viele Menschen bisher in dem Glauben, in der Krise auch selber Opfer bringen zu müssen, so steigt jetzt die Zahl derer, die statt hinzunehmender Ungleichheit immer mehr zu ver-

meidende Ungerechtigkeit sehen – und das in der Politik von beiden großen Parteien. Auch in den Ergebnissen der CDU zeichnet sich die Wirkung der »Neuen sozialen Frage« ab. Dabei ist die Wählerschaft der CDU im Osten deutlicher vom kleinbürgerlichen und Arbeitermilieu geprägt als im Westen. Dies schafft Distanz und Skepsis gegenüber neoliberaler Politik, wie sie von der CDU auf Bundesebene vertreten wird. Ihre Mitwirkung bei Hartz IV macht das den Menschen deutlich. So erscheint die CDU einem Teil ihrer bisherigen Wähler als Komplizin der heftig kritisierten Bundesregierung. Zwischen den beiden parlamentarischen Lagern und den Volksparteien sind kaum noch Unterschiede wahrzunehmen. Parlamentarische Entscheidungen werden hinter den Kulissen (in Kommissionen und Ausschüssen) vorbereitet. Das Parlament nickt nur noch ab, was so genannte Sachverständige, Vertreter der Unternehmerverbände und Politiker der Parteien ausgehandelt haben. Als Alibi und zur Einbindung wurden auch die Vertreter der Gewerkschaften in die verschiedensten Kommissionen geladen und haben sich daran beteiligt.

Der CDU gelingt es nicht mehr, aus der tiefen Vertrauenskrise der SPD gegenüber ihren Anhängern und Wählern Kapital zu schlagen, beide große Volksparteien verlieren. Im Osten repräsentieren beide gerade noch 30 Prozent aller Wahlberechtigten, im Westen sind es noch zwischen 35 und 40 Prozent. Der schöne Anschein, die Volksparteien könnten die gegensätzlichen Interessen in der kapitalistischen Gesellschaft unter ihrem Dach vereinigen und für deren gerechten Ausgleich sorgen, ist mit der praktischen Politik nicht mehr vereinbar. Beide Parteien sind nach rechts gerückt und entledigen sich ihres »Arbeitnehmerflügels«. Dies ist mit parteiinternen Auseinandersetzungen verbunden, die in der SPD mit dem Hinweis auf die Gefährdung der Regierungsfähigkeit im Sinne der Parteiführung entschieden werden.

Momentan setzen die Vertreter der Unternehmer in ihrer Mehrheit noch auf Bundeskanzler Schröder. Die CDU ist in ihrem Zustand der Zerstrittenheit über die zentralen sozialpolitischen Fragen (Wirtschaftsflügel gegen Arbeitnehmerausschüsse, CDU gegen CSU) nicht durchsetzungsfähiger als die rot-grüne Regierungskoalition. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Union werden darauf hinauslaufen, dass sie nicht Verantwortung für den Sozialabbau übernehmen können, bevor die SPD endgültig abgewirtschaftet hat. »Die Union wird schon bald die Frage beantworten müssen, wie sie bei der nächsten Bundestagswahl vor die Wähler treten will. Für die CSU ist die Antwort eindeutig: nicht als die Kraft, die für radikalere und einschneidendere Veränderungen als die rot-grüne Koalition steht. Der Anspruch, große Volkspartei zu sein, in München glanzvoll eingelöst, soll auch in Berlin nicht aufgegeben werden. Nicht der Beifall on Wirtschaftstheoretikern und Kommentatoren ist der Maßstab der CSU, den sie an Reformkonzepte anlegt; entscheidend ist, dass sich die Mehrheit der Wähler darin wieder findet.« (Leitartikel in der FAZ, 30.9.2004)

Parlamentarische Gewinner bei den Etablierten sind die kleinen Parteien, die Grünen und die FDP. Als Parteien der Besserverdienenden und des Mittelstandes können sie mit ihrem rabiaten »Sozialdarwinismus« ihr kleinbürgerliches Wählerpotential besser mobilisieren als die Volksparteien. Deren Wähler bleiben zunehmend zu Hause oder beginnen nach einer Alternative zu suchen.

PDS im Spagat zwischen Protest und Regierungsbeteiligung

In den neuen Ländern profitierte bei den Landtagswahlen auf der »Linken« die PDS, als einzige »Ostpartei« mit einer sozialen Verankerung. Sie konnte durch die Montagsdemonstrationen erzwungen, nicht anders als gegen Hartz IV aufzutreten. So wurde sie zu einem Spagat zwischen den demonstrierenden Mitgliedern, Sympathisanten und Betroffenen sowie ihren Regierungsbeteiligungen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern gezwungen. Mit den Massendemonstrationen wurde es der PDS aber auch der SPD in Brandenburg, die den Schröder-Kurs im Wahlkampf verteidigte, unmöglich gemacht, eine neue Koalition einzugehen. Ihren Kurs, der auf die weitere Regierungsbeteiligung in den Ländern zielt, gibt die PDS jedoch nicht auf. Das zeigt schon ihr Verhalten in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Dort hat sie insgesamt kein Problem damit, die gesetzliche und praktische Umsetzung von Hartz IV mit zu tragen, schließlich handele sich um ein Bundesgesetz, zu deren Ausführung die Landesregierungen verpflichtet seien.

In NRW konnte die Linke von einem äußerst niedrigen Ausgangsniveau höchstens einige Achtungserfolge erzielen. Ob eine neue sozialdemokratische »Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit« in Zukunft daran etwas ändern wird, lässt sich noch nicht beantworten.

Populismus und rechter Extremismus im Aufwind

Zu den Gewinnern der Entwicklung zählen auf der Rechten die DVU (in Brandenburg mit über 6 Prozent) sowie die NPD (4,5 Prozent im Saarland, 9,2 Prozent in Sachsen). Die etablierten Parteien wollen darin, wie in der Vergangenheit, nur eine vorübergehende Erscheinung sehen. Die Abgeordneten von DVU und NPD würden sich schon recht bald selbst diskreditieren und aus den Parlamenten wieder verschwinden. Zumindest in Brandenburg wurde das widerlegt. Die DVU war bereits im Landtag vertreten (das wurde vielen erst mit der Wahl 2004 bekannt) und konnte ihren Stimmenanteil sogar leicht ausbauen. Auch die Behauptung, der »Populismus gegen Hartz IV von rechts und links« sei verantwortlich für die Gewinne der NPD und der DVU und die eigenen Verluste seien nur vorübergehend, wird sich als Trugschluss herausstellen. Denn die Ursachen des »Populismus«, die sozialen Abbruchmaßnahmen, werden ungehemmt weiter getrieben und an der hohen Arbeitslosigkeit wird sich höchstens in der Statistik (durch 1-Euro-Jobs etc.) etwas ändern.

Der langsame Zersetzungsprozess der Volksparteien wird sich fortsetzen und solange der soziale Abbau nicht auf breitere Gegenwehr stößt, werden auch die Rechtsextremen davon profitieren. Der Rechtsextremismus schöpft seine Kraft aus der Passivität und aus der Mobilisierung von Vorurteilen, von unbewussten Ängsten und Gefühlen. Eine sozialistische Alternative dagegen wird auf Dauer nur Bestand haben können auf der Grundlage von verstärkten Klassenauseinandersetzungen und der Herausbildung von politischem Klassenbewusstsein unter den abhängig Beschäftigten Dazu bedarf es der Kritik und des Kampfes gegen die klassenversöhnende Ausrichtung der Gewerkschaften. Die soziale Spaltung zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten – sie ist zwangsläufiges Produkt der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft – lässt sich nur im politischen Klassenkampf gegen diese Gesellschaftsordnung überwinden.   16.10.04 ■