aus Arpo Nummer 1, 2004

Z U R   T A R I F A U S E I N A N D E R S E T Z U N G   I N   D E R   M E T A L L I N D U S T R I E

»Bombe mit Zeitzündereffekt«

Verlauf und Resultat der IGM-Tarifrunde 2004 ähnelte dem Ritual vergangener Jahr(zehnt)e: nach zahlreichen Warnstreiks ein über Nacht im traditionellen Tarifbezirk Baden-Württemberg ausgehandelter Kompromiss, der einen drohenden Arbeitskampf abwendete und beide Seiten in der Öffentlichkeit das Gesicht wahren ließ. Die Kommentatoren in den Medien und die Politiker zeigten sich alle zufrieden über den abgewendeten Streik.

Aus dem Lager der Bundesregierung gab es Zustimmung auch zu den Ergebnissen der Verhandlungen, bei der Opposition überwog das Bedauern, dass sich die Unternehmer nicht stärker durchsetzen konnten, verbunden mit der Aufforderung an die Gewerkschaften zu größerer Kompromissbereitschaft. Betrachtet man allerdings die Ergebnisse der ausgehandelten Vereinbarungen näher und untersucht die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen diese Tarifrunde stattfand, so wird deutlich, wie rasch und tief greifend sich die sozialen und politischen Verhältnisse in den letzten Jahren verschlechtert haben. In dem ausgehandelten Kompromiss schlägt sich das nieder. Mit ihm ist die Auseinandersetzung nicht beendet; sie wird auf anderen Ebenen ihre Fortsetzung finden.

Die Ausgangsbedingungen der diesjährigen Tarifrunde

»Die Diskussion um die Höhe der Tarifforderung im Herbst 2003 stand noch ganz im Zeichen der desaströsen Beendigung des Oststreiks und der darauf folgenden öffentlichen Schlammschlacht der so genannten ›Modernisierer‹ in der IG-Metall-Führung. [...] Die Lohntarifrunde sollte deshalb, so das Drehbuch der IG-Metall-Spitze, als ruhige sachorientierte Verhandlung mit einer bescheidenen Forderung über die Bühne gehen. Konfliktvermeidung stand ganz oben. Auch an der Basis wirkte das Desaster nach und führte, gespeist auch aus der allgemeinen Krisenangst, zu großer Verunsicherung. Die Folge war, dass selbst aus den süddeutschen Großbetrieben heraus kaum Druck für eine höhere Forderung als die vorgegebenen 4 Prozent entstand.« (AG Tarifpolitik der Gewerkschaftslinken, 27.2.04) Mit der maßvollen Lohnforderung hatte der Vorstand der IG Metall signalisiert, dass er einer Konfrontation mit dem Unternehmerlager aus dem Wege gehen wollte. Das Signal der Kompromissbereitschaft wurde jedoch von der Gegenseite nicht honoriert. Der Verband der Deutschen Metallindustrie (VDM) reagierte mit einer tarifpolitischen Maximalforderung, die zudem noch nicht einmal Gegenstand des gekündigten Lohntarifvertrages war. Eine generelle Öffnungsklausel sollte es ermöglichen zwischen den Betriebs«partnern« (Geschäftsleitung und Betriebsrat) ohne Zustimmung der Tarifvertragsparteien die wöchentliche Arbeitszeit auf 40 Stunden zu erhöhen, selbstverständlich ohne Bezahlung. Die IG Metall wäre – im Unterschied zu schon bestehenden Öffnungsklauseln – als Tarif- und Verhandlungspartner ausgeschaltet. Die Metallunternehmer – und sie handelten hier im Interesse der herrschenden Klasse – sahen günstige Voraussetzungen für einen erfolgreichen tarifpolitischen Durchbruch. Die seit Jahren anhaltend hohe Erwerbslosigkeit und die Angst um den eigenen Arbeitsplatz hatten in den letzten Jahren Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften erpressbar gemacht. Resultat waren u.a. die zahlreichen betrieblichen Vereinbarungen in der Metallindustrie, die schon durch die Öffnungsklauseln des alten Tarifvertrages möglich waren. »Tatsächlich gilt die 35-Stunden-Woche in vielen Betrieben nur noch als Rechengröße. Oft schwankte die Arbeitszeit je nach Auslastung zwischen 30 und 45 Stunden. Bei DaimlerChrysler in Untertürkheim arbeitet ein Großteil der Beschäftigten in der Produktion regelmäßig 40 Stunden. Davon sind 35 bezahlt, 5 Stunden werden auf Zeitkonten gutgeschrieben. [...] Und auch ohne drohenden Konkurs können über Ergänzungstarifverträge Sonderregelungen vereinbart werden. Ein Beispiel ist der Werkzeugmaschinenhersteller Trumpf im schwäbischen Dillingen. Dort gilt seit Jahren ein Sondertarif, der pro Mitarbeiter 70 Stunden unbezahlte Mehrarbeit im Jahr vorsieht. Bisher hängte die IG Metall solche Extravereinbarungen ungern an die große Glocke, jetzt veröffentlichte sie die Zahlen: Bei 1141 von insgesamt 5704 Mitgliedsbetrieben von Gesamtmetall gilt bereits ein Ergänzungstarifvertrag. Der Flächentarifvertrag hat demnach schon weit mehr Löcher, als bislang vermutet.« (Die Zeit, 5.02.04)

Die Tarifverhandlungen 2003 haben die Orientierungslosigkeit, Ratlosigkeit und Schwäche der Gewerkschaften offenbart – nicht nur die Streikniederlage der IG Metall im Osten, sondern u.a. auch die Tarifvereinbarung zwischen Berliner Senat und ver.di, die eine generelle Absenkung von Löhnen und Gehältern mit sich brachte. Noch nie in der Geschichte der BRD hat sich das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften derart rasant und stark zu Lasten der Lohnabhängigen verschoben wie in den letzten Jahren. Die sich daraus ergebende innenpolitische Situation schien für einen erfolgreichen Angriff auf die Tarifautonomie günstig. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hatte die sozialpolitischen Abbaumaßnahmen (Hartz, Agenda 2010, Kürzungen bei Renten und Gesundheitsleistungen) zwar manchmal murrend, aber weitgehend passiv über sich ergehen lassen. Und die Vorstände der Gewerkschaften haben die Notwendigkeit der »Reform«-Maßnahmen im Grundsatz anerkannt; Kritik übten sie allenfalls in Detailfragen und an Ausführungsbestimmungen. Die bisher noch schwachen Proteste fanden gegen oder ohne praktische Unterstützung durch den DGB und die Vorstände der Einzelgewerkschaften statt. So kündigte zum Beispiel die DGB-Vizevorsitzende Engelen-Kefer nicht ihre Mitarbeit in der Rürup-Kommission auf, um damit ein Zeichen zum Widerstand gegen den Sozialabbau zu setzen, sondern arbeitete bis zum Schluss unverdrossen mit.

Sowohl von der Regierung als auch den Oppositionsfraktionen erhielten die Metallunternehmer direkte politische Schützenhilfe für ihren Vorstoß. »Ich erwarte also, dass sich die Tarifvertragsparteien entlang dessen, was es bereits gibt – aber in weit größerem Umfang – auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln haben.« (Bundeskanzler Schröder in 2010-Agenda-Rede.) Die CDU/CSU-Fraktion hat einen eigenen Gesetzesentwurf zur Aushebelung der Tarifautonomie vorgelegt und in den Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat eingebracht.

Die IG Metall sieht sich zum Handeln gezwungen

Die neu gewählte Führung der IG Metall, die eine normale, möglichst konfliktfreie Lohnrunde angestrebt hatte, stand einem unerwünschten Grundsatzkonflikt gegenüber. Zwar hatte sie in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis gestellt, dass sie zur Sicherung des Standortes zu Zugeständnissen und Abstrichen bereit ist; ihr Bestreben muss es jedoch sein, als Sozial- und Verhandlungspartner dabei mit im Boot zu sitzen. Die weit gehenden Öffnungsklauseln, die von der Gegenseite gefordert wurden, sahen das aber nicht mehr vor. Ein Nachgeben angesichts der tarifpolitischen Offensive des Unternehmerlagers wäre einer Selbstdemontage gleichgekommen. Eine ihrer wichtigsten Funktionen hätte die IG Metall an die Betriebsräte abgeben müssen. Auch in den eigenen Reihen wäre das nicht zu vermitteln gewesen und auf Widerstand gestoßen. Der IG Metall-Vorstand sah sich zum Handeln gezwungen. Nach dem Ablauf der Friedenspflicht wurde bundesweit zu Warnstreiks aufgerufen. Den Schwerpunkt bildeten die kampfstarken Tarifbezirke Baden-Württemberg und Bayern.

In den dortigen Großbetrieben wurden die Warnstreiks zu Selbstläufern. »Die Beteiligung an den Warnstreiks war gigantisch. Wir hatten gute Voraussetzungen, um aus dieser Auseinandersetzung mehr zu machen.« (Tom Adler, BR bei DaimlerChrysler, Untertürkheim/Mettingen in einem Interview mit der Jungen Welt, 16.02.04). »Diese Streiks wären nicht wie im Sommer ins Leere gelaufen«, kommentierte auch die Financial Times Deutschland am 13.02.04. Nicht so sehr die Lohnfrage, sondern die Forderung der Metallunternehmer nach unbezahlter Mehrarbeit von fünf Stunden trieb die Belegschaften massenhaft vor die Betriebstore. Neben der Empörung über das Vorhaben von Gesamtmetall kam auch die gewachsene Unzufriedenheit über die Agenda 2010, die Gesundheits- und Renten»reform« in der hohen Streikbeteiligung zum Ausdruck. Für breite Teile der Bevölkerung wurden die Auswirkungen des sozialpolitischen Abbaus erst in den letzten Monaten praktisch spürbar; die eingeleiteten Maßnahmen betreffen zunehmend auch die noch Erwerbstätigen. Die Zuzahlungen beim Arzt, die Besteuerung der Betriebsrenten usw. haben die Stimmung kippen lassen. Die SPD befindet sich seit Monaten bei den Meinungsumfragen in einem bisher nicht gekannten Stimmungstief; eine Änderung ist nicht absehbar. Immer mehr Parteimitglieder (10.000 allein im Januar 2004) haben ihr Parteibuch zurückgeschickt. Angesichts der in diesem Jahr stattfinden Wahlen sorgte dies auch unter den sozialdemokratischen Funktionsträgern für Verunsicherung und Unruhe. Der Rücktritt Schröders vom Parteivorsitz ist ein Resultat dieser veränderten Stimmung. Mit der neuen Aufgabenteilung will er, unbelastet vom Parteivorsitz, als Bundeskanzler die SPD insgesamt weiter auf Regierungskurs halten. Sein Nachfolger Müntefering soll dies als innerparteilicher Zuchtmeister durchsetzen. Zugleich fällt ihm die (unlösbare) Aufgabe zu, das soziale Image der Partei aufzupolieren ohne Abstriche in der Regierungspolitik vornehmen zu müssen.

Ein möglicher Streik in der Metallindustrie wäre angesichts der innenpolitischen Stimmung – anders als der verlorene Arbeitskampf im Osten – auf mehr Sympathie in der Bevölkerung gestoßen. Er drohte zu einem Kristallisationspunkt zu werden, bei dem indirekt die Ausrichtung der »Reform«politik der letzten Jahre zur Debatte gestanden hätte. Die Eigendynamik und der Ausgang eines Arbeitskampfes lassen sich aber nicht von vorneherein bestimmen; vor allem die Auswirkungen eines politisierten Arbeitskampfes sind nur schwer zu kalkulieren und zu kontrollieren. Das Unternehmerlager sah die Gefahr, dass der drohende Arbeitskampf – sollte es sich mit seinen Kernforderungen nicht durchsetzen – zu einem Schuss nach hinten wird. Er wäre für alle, die der ganzen Richtung des seit Jahren betriebenen »Reform«kurses ablehnend gegenüberstehen, zu einem Signal geworden; zum Beweis, dass es möglich ist, sich auch unter den schlechten Ausgangsbedingungen zur Wehr zu setzen. Im übrigen benötigt der VDA die IG Metall noch als Tarifpartner und Ordnungsfaktor zur Durchsetzung seiner Interessen.

Die Führung und der Apparat der IG Metall lehnen es ab, dem Klassenkampf von oben auf der gleichen Ebene zu antworten. Sie verstehen sich und agieren als Tarif- und Verhandlungspartner, der die bestehende Gesellschaftsordnung und seine Regeln  anerkennt. Denn: Jede Gewerkschaftspolitik ist zunächst Tarifpolitik, sie stellt das Lohnsystem nicht grundsätzlich in Frage, sondern reproduziert dieses ständig. Folgerichtig versuchen die Vorstände der Gewerkschaften alles zu vermeiden, was sie in Auseinandersetzungen mit dem Unternehmerlager und die Regierung treiben oder zu einer Radikalisierung führen könnte. Die Zugeständnisse an die Gegenseite werden notwendigerweise immer größer. Keine Seite – weder Gesamtmetall noch die Führung der IGM – wollten das Risiko eines zugespitzten und politisierten Arbeitskampfes eingehen. In ihrem gemeinsamen Interesse lag es, den Konflikt auf Sparflamme zu führen und durch einen Kompromiss den Streik überflüssig zu machen.

Das Ergebnis der Tarifverhandlungen

Die hohe Streikbereitschaft vor allem in Baden-Württemberg und Bayern vor dem Hintergrund des gewachsenen Unmuts in der Bevölkerung hatte das Unternehmerlager zu einem Teilrückzug gezwungen. »Die IG Metall bleibt im Boot, hat sich aber verpflichtet, mit uns in die gleiche Richtung zu rudern«, kommentierte Südwestmetall-Chef Zwiebelhofer den Abschluss (Financial Times Deutschland, 13.2.2004). Gesamtmetall-Präsident Kannegießer räumt ein, »dass die Lösung ›ein anderer Weg ist, als wir uns ursprünglich vorgestellt haben‹. Die Forderung nach Öffnungsklauseln habe aber ein Kernselbstverständnis der IG Metall berührt. ›Wir können auf verbrannter Erde, die entstanden wäre, keine betrieblichen Spielräume bauen‹.« (FTD, 13.2.2004) Diese Sichtweise entspricht zur Zeit der Mehrheitsmeinung in den Arbeitgebeverbänden.

Die IG Metall konnte zwar nach außen ihr Gesicht wahren und verkündete: »Wir haben unser Versprechen gehalten, eine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche wird es mit uns nicht geben.« (IGM-Vorsitzender Peters) Die Realität in den Betrieben wird allerdings anders aussehen. »Zunächst einmal muss man festhalten: Die Unternehmer sind mit ihrem Vorhaben, über generelle Öffnungsklauseln die Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich auf bis zu 40 Stunden heraufsetzen zu können nicht durchgekommen. Andererseits haben sie weitere Öffnungsklauseln in Richtung 40-Stunden-Woche erreicht. Dies würde ich als Bomben mit Zeitzündereffekt betrachten, die nicht unmittelbar einen Erdrutsch in der Fläche hervorrufen. Es sind aber Bohrungen in einem Damm, die in der Summe irgendwann dazu führen, dass er bricht. Die Formulierung im Vertrag, dass es gemeinsames Ziel der Tarifparteien sei, Arbeitsplätze am Standort Deutschland zu sichern, die Wettbewerbsfähigkeit und Investitionsbedingungen zu verbessern, bedeutet nichts anderes als das ‚Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit' pur – jetzt per Tarifvertrag. « (Tom Adler, BR bei DaimlerChrysler, Untertürkheim/Mettingen, Interview Junge Welt, 16.2.2004)

Zusammengefasst: Dem Unternehmerlager ist es nicht gelungen im ersten Angriff die Tarifautonomie und den Flächentarifvertrag zu Fall zu bringen. Es hat allerdings einen erheblichen »Geländegewinn« erzielt. Das wird es nutzen, um schrittweise das begonnene Vorhaben zu vollenden – auf betrieblicher und politischer Ebene. Das Verhalten der IG Metall-Führung folgte dem in letzter Zeit üblichen Muster. Durch die Zugeständnisse bei den Öffnungsklauseln wollte sie ihre Verlässlichkeit als Tarifpartner unter Beweis stellen und sich die Anerkennung durch die Gegenseite »erkaufen«. Mit der Laufzeit von 26 Monaten hat sie sich selbst bis zur nächsten Bundestagswahl die Hände gebunden. Die Vertreter des VDM feierten dies als Planungssicherheit für die Unternehmen.

»Die nächsten Angriffe kommen so sicher wie das Amen in der Kirche«

so nochmals Tom Adler zum Verhandlungsergebnis. Die Vertreter des VDM und die bürgerliche Presse haben schon angekündigt, wie es nach ihren Vorstellungen weitergehen soll. »Dafür aber, so machten sich die Arbeitgeber sogleich [unmittelbar nach dem gefunden Kompromiss, d.Red.] Mut, müssten die Absichterklärungen über die Abweichungen vom Flächentarif nun erst recht in den Betrieben umgesetzt werden. Und so könnte es sein, dass die Einigung von Pforzheim nicht das Ende eines großen Konfliktes ist, sondern dessen Anfang.« (SZ, 13.2.2004) »Bei Bosch wollen die Arbeitgeber nun die Probe machen: Die Fertigung der neuen Dieselruß-Filter sei zu Tarifbedingungen in Deutschland nicht wettbewerbsfähig, Produktionsverlagerung ins Ausland drohe, erklären Verbandsvertreter. Deshalb müsse hier der im Tarifabschluss angebotene Werkzeugkasten ausgepackt werden: Etwa die Kürzung des Weihnachtsgeldes oder die Erhöhung der Arbeitszeit auch ohne Lohnausgleich, so wie ursprünglich als generelle Öffnung gefordert. 'Sperrt sich hier die IG Metall', erklärt ein Arbeitgeber-Vertreter, 'dann tritt die Firma eben aus dem Tarifvertrag aus'.« (Süddeutsche Zeitung, 13.2.2004)

Ob es uns nun passt oder nicht, je mehr die Gewerkschaften auf ihrem traditionellen Feld der Tarifpolitik zurückgeworfen werden, je mehr Tarifverträge (mit den zahlreichen Ausnahmen und Öffnungsklauseln) an bindender Kraft verlieren, desto stärker sind die Belegschaften auf sich selbst gestellt. Von ihrer Kraft und Aktivität werden in Zukunft Lohn und Arbeitsbedingungen in weit stärkerem Maße abhängen als früher. Die Zeiten, in denen kampfstarke Bereiche stellvertretend für alle »die Kastanien aus dem Feuer holen« konnten, gehören der Vergangenheit an. Mit dem verschärften Klassenkampf von oben bekommt auch das Modell der bundesdeutschen Gewerkschafts- und Tarifpolitik eine andere Funktion; es wird, statt Löhne und Arbeitsbedingungen zu sichern, zu einem Instrument für deren Abbau. Die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben stehen damit vor Bedingungen, die sie sich noch vor wenigen Jahren nicht mal im Traum vorstellen konnten. Unter dem Druck der Arbeitslosigkeit, unter den Drohungen und Erpressungen der Gegenseite, müssen sie nach Mitteln und Wegen suchen, um ihren Interessen den notwendigen Nachdruck zu verleihen. Das wird kein leichter und kurzer Prozess sein: Während die Kapitalseite und ihre politischen Vertreter offen und unverhohlen vorgehen, um die noch geltenden sozialen Sicherheiten wegzuräumen, sind die Belegschaften geprägt durch eine lange Periode praktizierter Sozialpartnerschaft und Stellvertreterpolitik.

Das spiegelt sich wider unter den betrieblichen Interessenvertretern; vor allem die Betriebsräte in den großen Konzernen begreifen sich meistens als Co-Manager. Diese Betriebsräte als auch die Führung der IG Metall werden bei den anstehenden Verhandlungen auf betrieblicher Ebene der bisherigen Linie folgen und den Abbau als das kleinere Übel verkaufen. »Geht es meinem Unternehmen gut, so sind wenigstens die Arbeitsplätze gesichert«, mit dieser Ansicht stehen die Co-Manager unter den Beschäftigten nicht alleine. Im kapitalistischen Konkurrenzkampf sind einzelne Betriebe und Standorte tatsächlich leichter erpressbar. Eine Korrektur und Veränderung der gewerkschaftlichen Politik kann es nur geben, wenn die Belegschaften selbst aktiv werden und die Auseinandersetzung aufnehmen. Den linken und kritischen Kräften in den Gewerkschaften fällt die praktische Aufgabe zu, für den notwendigen Informationsaustausch zwischen den Betrieben, für die Herstellung von Verbindungen und für gemeinsame Absprachen zu sorgen, wenn es in den Belegschaften Ansätze von Widerstand gibt. In den Gewerkschaften gilt es, deren Politik der Unterordnung unter die kapitalistischen Sachzwänge zu kritisieren sowie deren soziale und politische Folgen für die Lohnabhängigen aufzuzeigen. Auch auf der politischen Ebene ist mit dem ausgehandelten Kompromiss die Auseinandersetzung keineswegs beendet.

»Um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden, ist die Politik gefordert. Sie muss – das wäre zumindest ein Anfang – durch ein zwingend vor geschaltetes Schlichtungsverfahren dafür sorgen, dass die Friedenspflicht ausgedehnt und ein Streik nur als allerletztes Mittel der Auseinandersetzung in Frage kommt.« (FAZ, 13.2.2004) Die Süddeutsche Zeitung fordert: »Gerhard Schröder hatte im März 2003 gesagt, er erwarte, dass sich die Tarifpartner 'entlang dessen, was es bereits gibt, in weit größerem Umfang auf betriebliche Bündnisse einigen'. Andernfalls müsse der Gesetzgeber handeln. Diese Mahnung – oder wie die Gewerkschaften meinen: diese Drohung – des Kanzlers hat auch nach dem Metallabschluss weiterhin Gültigkeit.« (13. 2.2004) Die bürgerliche Presse übernimmt willfährig die Wünsche des BDA.

Auch wenn die IG Metall für den Abschluss von der Bundesregierung ein Lob erhielt – was sind deren Lobhudeleien noch wert? – eine Garantie für den Verzicht auf Gesetzesänderungen gibt es nicht. Spätestens, wenn in zwei Jahren die heutige Koalition durch eine unionsgeführte Bundesregierung abgelöst werden sollte, steht eine gesetzliche Einschränkung der Tarifautonomie wieder auf der Tagesordnung. Verhängnisvoll wäre ein Kurs, der durch weitgehende Zugeständnisse bei den Verhandlungen über die Umsetzung der Öffnungsklauseln glaubt, die Gegenseite von ihren Vorhaben abbringen zu können. Mit wem wollen die Gewerkschaften dann die Tarifautonomie und den Flächentarifvertrag noch verteidigen, wenn große Teile der Mitgliedschaft durch die zahlreichen Ausnahmeregelungen gar nicht mehr zu den Bedingungen des Flächentarifvertrages arbeiten und die Gewerkschaften schon in Scharen verlassen haben?       Berlin, März 2004